Im Mittelgang: Die Zoogeschichte, Erfahrungsbericht einer Theaterinszenierung, Teil 1
Zoogeschichte
Jörg
und Ingo sind es, die auf mich zukommen und mich fragen, ob ich ihnen
helfen würde, ein Theaterstück zu inszenieren. Edward Albees
Zoogeschichte. Jörg und Ingo sind siebzehn, Oberstufe meines alten
Gymnasiums und Mitglieder der Theater-AG, was den Vorteil hat, dass
sie für das kleine Sonderprojekt auf deren Ausstattung und Etat
zurückgreifen können. Nur auf die übliche Lehrkörper-Regie
verzichten sie, weil die ihnen zu konventionell ist. Unter anderem.
Nein, unter so einem Verdacht stehe ich nicht, ganz egal, was ich
gerade mache.
Die
Zoogeschichte... Ingos Bruder Werner, über Jahre der große
Schauspielstar der Theater-AG und nun Folkwangschüler, hat die
gerade mit seinem Folkwangkumpel Achim in eigener Inszenierung im
Rathaussaal in Zeven aufgeführt, als kleines Gastspiel in der alten
Heimat. Ich hatte es gesehen und war enttäuscht gewesen. Werner,
klein, wuchtig, überphysisch, gibt den Jerry als Kinski mit
gleichbleibendem Druck über die Rampe und brüllt brav, was im Text
als zu brüllen gekennzeichnet ist, während Achim, der dem weder vom
Typ noch von der Rolle her etwas entgegenzusetzen hat, schlicht
eigenschaftslos dahinter verschwindet; hinterher ist nichts davon
haften geblieben, angeschaut statt mitgebaut, schon an der Garderobe
war die Darbietung fast wieder vergessen.
Das
geschriebene Stück ist großartig, aber man hätte es anders
inszenieren sollen, denke ich, und irgendeine Muse muss diese
Gedanken aufgeschnappt haben. Gedanken – denn habe ich darüber
geredet? Ich glaube nicht.
Darum
wundert es mich auch, als einige Wochen später Jörg und Ingo auf
mich zukommen. Jörg und Ingo sind Mitglieder der Theater-AG meines
Ex-Gymnasiums. War ich auch gewesen, Theater-AG-Mitglied, prominent
als Person, peripher als Mitwirkende. Nie gespielt, nie aufgetreten.
Hatte ein Stück geschrieben – oder zumindest fast. Eine Aufführung
davon hatte es nicht gegeben, obwohl schon geprobt worden war. Als
die Rollen schon verteilt werden, bevor das Stück überhaupt fertig
ist, als auf einmal jeder seine Rolle mitgestalten will und alle
Mitspieler zu jeder Gelegenheit auf mich einquatschen, weil ihnen
„noch was Tolles eingefallen ist, das unbedingt in die Rolle muss!“
- egal, ob es zum Rest passt oder nicht - stirbt das Stück unter
meinen Händen unvollendet, still und leise. Ich fühle es nicht
mehr. Niemand spricht darüber, niemand fragt nach, eines Tages
proben wir einfach ein anderes Stück. Es ist wie eine Fehlgeburt
gehabt zu haben; erst viele Jahre später kann ich das überhaupt so
verstehen.
Jörg
und Ingo aus der nächsten Generation der Theater-AG kommen also auf
mich zu, die ich längst nicht mehr dazugehöre, weder zur Schule
noch zur AG, und fragen mich, ob ich bei ihrer Zoogeschichte Regie
führen will. Ich weiß nicht, was sie dazu bringt - aber verdammt,
ich fühle mich geschmeichelt.
Das
Ende meiner Laufbahn im Gymnasium war spontan und unspektakulär
gewesen: Mitten in der 12ten breche ich einfach ab, gehe sozusagen
´raus und komme nicht wieder, so wie jemand Zigaretten holen geht
und nicht wiederkommt, und es scheint niemanden zu kümmern, nicht
wirklich, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls bin ich
jetzt zweiundzwanzig, wieder in der Stadt und gerade in einem
grässlichen Bürojob an der Probezeit gescheitert. Wenn ich gerade
etwas wirklich, wirklich brauchen kann, ist es eine künstlerische
Aufgabe. Und Vertrauen.
Ingo
ist der kleine Bruder von Werner, dem wie schon erwähnt großen Star
der Theater-AG und jetzigem Folkwangschüler. Vielleicht soll diese
unsere Inszenierung eine kleine Revanche an seinem Bruder sein, oder
vielleicht hat er auch gar keine Hintergedanken brüderlicher
Rivalität, sondern nur Lust auf das Stück, ich weiß es nicht und
frage auch nicht nach. Was mich endgültig und von ganzem Herzen für
die beiden und für den Auftrag einnimmt, ist, dass sie sich schon
selber besetzt haben, und zwar gegen ihren jeweiligen Typ: Dass der
quirlige, lebhafte, expressive Ingo den zaghaften, höflichen und
zunehmend überforderten Peter spielt und Jörg, der, noch schlaksig
und ungelenk, gerade erst in seinen Körper hineinwächst und die
Neigung, in rituelle Verlegenheitsgesten auszubrechen, auf der Bühne
nicht verbergen kann, den Jerry – das ist genau der Mut, das
Material und sich selbst gegen den Strich zu bürsten, der mich
fasziniert und begeistert. Da bin ich doch mit ganzem Herzen dabei!
Wie
lange werden wir Zeit haben zum Proben? Einen Monat, sechs Wochen?
Wie oft können wir proben, zwei-, dreimal in der Woche? Ingo ist
darauf angewiesen, den letzten Bus ins Hinterland zu kriegen, gute
anderthalb Stunden pro Schulweg, einmal hin, einmal zurück. Jörg
und ich wohnen am Schulort, uns ist das gleich, also lassen wir den
Busfahrplan unser Probenende dirigieren und hoffen, dass das der
einzige Einschnitt in unsere künstlerische Freiheit ist und bleibt.
Das
erste Kräftemessen gibt es gleich während der ersten Probe.
Schauspieler Jörg und Regisseurin ich geraten aneinander, gleich bei
der allerersten Szene. Jerry soll laut Text von links auftreten, ich
will ihn von rechts. Jörg wittert erste Ansätze von
Regisseurstheaterallüren und stemmt sich schon mal dagegen. In der
AG ist man Texttreue gewohnt, das gilt auch für die Anweisungen. Ich
bin nicht AG, sondern freie Regisseurin und beharre auf rechts. Er
will wissen, warum. Ich muss ein Empfinden übersetzen, über das ich
bis zu diesem Moment nicht eine Sekunde nachgedacht habe. „Was von
links kommt, ist automatisch in die Szene integriert. Was von rechts
kommt, wird als Störfaktor wahrgenommen. Schlechte Nachrichten
kommen von rechts. Und ich will, dass dich das Publikum gleich als
Störfaktor wahrnimmt.“ Auch Jörg hat darüber niemals
nachgedacht, aber er will das nicht einfach so hinnehmen. „Warum?“
fragt er. „Wir lesen von links nach rechts, das bestimmt unseren
Fluss der Aufmerksamkeit . Gegenläufigkeit stört den Fluß, gibt
einen Bruch“ schüttle ich aus dem Ärmel, und zwar ohne einen
spürbaren Hauch des Zweifels. Dass es so ist, steht mir praktisch
vor Augen. „Und die Kulturen, die nicht von links nach rechts
schreiben?“ - „Die haben auch andere Formen von Theater!“
trumpfe ich auf, ohne jeden Beleg, aber mit einer Gewissheit, die
Jörg auf der Stelle auf die Barrikaden treibt, gerade weil er keinen
Gegenbeweis zur Hand hat. Die selige Vor-Smartphone-Ära ohne
Google-Möglichkeit! Wütend schnappt er seine Jacke und stürmt aus
dem Probenraum. Ingo und ich sehen uns an - und warten ruhig ab.
Nach fünf Minuten ist Jörg wieder da und ergibt sich.
Wir
können arbeiten, und Jerry kommt von rechts. Gerade weil Jörg als
Jerry in seiner zurückhaltenden und diffusen Körpersprache so
harmlos wirkt, so unauffällig, irritiert die „falsche“ Richtung
umso mehr und gibt ihm eine uneinschätzbare, diffus stressende Note.
Einen Kontrapunkt gegen Ingos kleine runde Selbstverständlichkeit,
mit der sein Peter auf der Bank sitzt und liest. Das Publikum, im
Probenfall ich, begreift sofort, dass er eigentlich nicht gestört
sein will, weil es sich stellvertretend von Jerry gestört fühlt.
Und ist zugleich neugierig auf diesen schüchtern und nervös
wirkenden Eindringling, der an sich so gar nicht bedrohlich wirkt.
Schon in den ersten Minuten haben wir eine Spannung erreicht, die
zwar noch nichts von dem preisgibt, was später um diese Bank herum
geschehen wird, doch es schon einläutet. Und: wir haben ein
Gleichgewicht zwischen den Figuren, beide haben die gleiche
Aufmerksamkeit. Was, wie sogar der Autor zugibt, über die Vorlage
schwer zu erreichen ist, weil Jerry im Text sehr viel präsenter ist
als Peter.
Um
Ingo brauche ich mich nicht zu kümmern, seine Reaktionen entstehen
aus dem, was Jörg spielt. Aber Jörg braucht einen angemessenen Typ,
um seine Körpersprache zu finden und zu befreien. Noch agiert er
sehr aus dem Kopf heraus, sein Körper schlackert gewissermaßen noch
um ihn herum und flüchtet in die schon erwähnten
Verlegenheitsgesten. Eigentlich immer dieselbe: beide Arme fallen
zugleich herunter, die Handflächen nach außen gedreht, ein ständig
wiederholter unbewusster Manierismus. Nervt ihn selber. Man kann
sehen, wo dieser Bewegungszwang ansetzt, die Arme, die Schultern sind
nicht locker, trauen sich nicht, aus ihrer Synchronizität
auszubrechen und separat Gesten zu vollführen. Er verkrampft. Ich
muss ihm den Druck nehmen, darauf zu achten, denn dann verkrampft er
noch mehr. Jörg muss sich freispielen, und das wird er am besten
können, wenn der Jerry, den er spielt, auf ihn maßgeschneidert ist,
seinem eigenen Typ entspricht. Wenn wir beide vernetzen können, ohne
dass Jörg darüber nachdenken muss. Ich will einen glaubwürdigen
Jerry, und wir überlegen, wie wir das erreichen können.
Anthony
Perkins fällt mir ein, eine sehr ähnliche schlaksige Nervosität,
aber ich will nicht, dass Jörg etwas nachspielt. Ich will seine
Fühlung, sein eigenes integriertes Körperbewusstsein; alles andere
würde über seinen Kopf laufen, und wenn er sich bemüht, verkrampft
er unwillkürlich wieder. Wir müssen seinen Kopf also quasi
umlaufen, was heißt, dass ich möglichst vermeide, ihn mit
Anweisungen vollzutexten. Stattdessen spielen wir miteinander. Nicht
die Rollen, einfach so, Aktion-Reaktion-Intuition.
Eine
Tüte Sonnenblumenkerne, die Jörg mit zur Probe bringt, liefert die
erste Idee. Ich schütte sie ihm in eine Hosentasche, nur in eine,
und „erlaube“ ihm, dort hineinzugreifen, wenn er wieder seinen
Verlegenheits-gestenzwang spürt. Wozu er in sich hineinfühlen muss.
Und genau dann möge er ein paar Kerne greifen und etwas mit ihnen
machen, heiße ich ihn. Der Erfolg ist faszinierend: die
Sonnenblumenkerne werden zu Requisiten, an denen Jörg nicht nur Halt
findet, sondern die ihn geradezu befreien, denn von Mal zu Mal geht
er frecher, freier und kreativer damit um. Mal lässt er sie sich in
den Mund regnen, mal wirft er sie in einem Wutanfall auf den Boden,
als würde er Satzzeichen schleudern. Die aufmerksame Neugier, mit
der Ingo und ich darauf warten, was er wohl diesmal mit ihnen macht,
erlöst ihn Schritt für Schritt von Druck und Verkrampfung. Wir
lachen viel. Wir spielen. Wir vertrauen einander, kein Grund mehr für
Ängste.
Erstaunlich
schnell hat sein Körper die Verlegenheitsgesten völlig vergessen.
Mit Hilfe der Sonnenblumenkerne gewinnt der an Ausdruckskraft, und
Jerry wird als Typ noch irritierender.
(Fortsetzung folgt)
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