Und hier: "Das Bein, ein Märchen - oder auch nicht"

Das Bein (1996)

Es war einmal ein Bein, das fühlte sich allein.
Es wusste - oder spürte zumindest - dass es einem bestimmten Rhythmus folgte, wenn es sich bewegte. Es berührte den Boden und fühlte sich wieder emporgezogen, dann in einem Bogen nach vorn gestreckt, ganz leicht, bis der Boden wieder näherkam. Es war nicht immer, aber meistens ein anderes Stück Boden, das sich dann vom Ende des Beins, einem rechtwinklig abstehenden, beweglichen und unten abgeplatteten Ende mit eigenen lustigen, beweglichen Enden, berühren ließ. Dieses Ende, wir wissen das, wird Fuß genannt, was dem Bein aber ebenso gleichgültig war wie dass es „Bein“ hieß. Aber es spürte, dass dieses sein Ende ihm erst die Kraft verlieh, überhaupt aufrecht in die Höhe zu ragen und, wenn es den Boden verlassen und sich vorgestreckt hatte, auch wieder dort aufzutreffen. Das Bein verließ sich auf sein Ende, auch weil das dem Bein zuverlässig meldete, welcher Art dieser Boden war, so dass es sich darauf einstellen konnte. Das Bein dachte nicht darüber nach, es genoss einfach, dass es funktionierte - und in manchen Momenten war es stolz auf seinen Instinkt, sein Können und seinen unverwechselbaren Stil.

Und doch hatte es oft das Gefühl, dass ihm etwas sehr Wichtiges fehle. Alle Beine, die ihm ähnelten, waren zu zweit, Teile eines Paares, ein linkes und ein rechtes, wunderbar aufeinander eingespielt in ihrem sich ergänzenden Rhythmus. Zu gern hätte das Bein gefragt, wo sie denn einander gefunden hätten...aber Kommunikation war nicht seine Stärke, und die Momente - und die Beinpaare - gingen zu schnell vorbei.

Eines Tages, als es Zeit war, erwachte das Bewusstsein des Beines. Soweit, daß es ein zweites Bein erkannte - direkt neben sich! Da, wohin es nie zuvor getastet hatte, jedenfalls nicht dass es ihm aufgefallen wäre. "Endlich habe ich dich gefunden!" sagte das Bein in aufwallender Glückseligkeit. Und auch das andere Bein, dessen Bewusstsein wohl zufällig gerade im selben Moment erwacht war, konnte sein Glück nicht fassen. Alle Sehnsucht schien ein Ende zu haben!

Das eine Bein war so voller Liebe zum anderen Bein, dass es bei jedem Schritt nur noch auf es achtete, nicht mehr auf sich. Und nach zehn Schritten in diesem glücklichen neuen Leben sagte es:"Weißt du, ich liebe dich so sehr, ich kann es nicht ertragen, dass du diesen schmutzigen Boden berühren musst. Lass mich deine Schritte auch machen, dann kannst du in der Freiheit der Luft bleiben und musst nicht auf diese Härte und in diesen Dreck treten!" Das andere Bein war geschmeichelt. Noch nie zuvor hatte jemand es so geliebt!

Dumm war nur, dass sie damit nicht so recht vorankamen.

"Hör´ mal", sagte das andere Bein, "ich liebe dich auch, aber irgendwas läuft hier falsch. Ich bin gern in der Luft, aber wenn ich nicht zwischendurch auf den Boden komme, kann ich meine Bestimmung nicht erfüllen. Wenn du meine Schritte für mich mit machst, kann ich nicht wirklich ich selbst sein."

Das eine Bein war traurig, weil dessen Bestimmung dem anderen Bein wichtiger zu sein schien als seine Liebesgabe. Es zögerte einen Augenblick. Dann seufzte es. "Na gut. Aber ich liebe dich so sehr, dass ich es nicht ertragen kann, wenn du dich übermäßig anstrengst. Lass mich drei Schritte machen, wo du einen machst!"

Das andere Bein ahnte, dass auch an diesem Vorschlag etwas nicht funktionieren würde, aber es liebte das eine Bein so sehr, dass es ihm nicht widersprechen konnte. Außerdem war das Bein schon zwei Schritte vorausgeeilt.

Beim dritten Schritt fielen beide um.

Das andere Bein stieß sich beim Fallen das Knie an einem Stein. Der Schmerz machte es wütend. "So geht das nicht weiter!", schimpfte es, " Ich habe immer meine eigenen Schritte gemacht! Ich will sie auch weiter machen! Ich wusste doch gleich, dass das ein Fehler war mit der Liebe! Am besten, wir trennen uns!"
Das andere Bein hatte sich den Knöchel verstaucht und fand nur mit Mühe Halt. Nun hätte es das erste Bein wirklich gebraucht, doch das war jetzt zu ärgerlich dafür. Am liebsten hätte es geweint, aber es war eben ein Bein und hatte noch nicht einmal Hühneraugen.

"Wo immer du hingehst, ich werde dich nie vergessen." flüsterte es zum Abschied. Das andere Bein war so wütend, dass es nicht einmal zuhörte. Es wollte in eine ganz andere Richtung gehen - aber auch das funktionierte nicht so recht. Darum beschloss es, das andere Bein wenigstens zu ignorieren. Also taten sie so, als kennten sie sich nicht, die beiden Beine, und nach einigen stolpernden Schritten nahm jedes seinen Rhythmus wieder auf. So gut es ging, mit einem verstauchten Knöchel und einem geprellten Knie.

Und mit den schmerzenden Gedanken.

"Wir passten doch so gut zusammen" dachte das eine Bein.
"Es ist alles nicht mehr wie vorher" dachte das andere Bein.
Und sie wanderten nebeneinander her, als seien sie unendlich weit voneinander getrennt, und litten.

Irgendwann war die Sehnsucht in beiden so angewachsen, durch alle Muskeln und Nerven hindurch bis in das Knochenmark und durch alle Fasern bis in die Spitzen der Enden des Beinendes, dass jeder Schritt nur noch daraus zu bestehen schien.
Die Luft griff diese Sehnsucht auf und vibrierte, und der Boden antwortete darauf. Wohin sie gingen, war Sehnsucht.
Und als die Sehnsucht zu groß geworden war, um sie noch auszuhalten, zerriss der Schmerz, der ihre Wahrnehmung verschleiert hatten. Und auf einmal sah jedes das andere in völlig neuem Licht: sie erkannten, dass sie EINEN Körper trugen, gemeinsam, jedes zur Hälfte, jedes mit seinem Schritt, und es war schon immer so gewesen und hatte schon immer gepasst. Beide zusammen ergaben Bewegung, ergaben Vorankommen, aus der Luft auf die Erde und zurück.

Es war vollkommen, so wie es war.

"Du", sagte das eine Bein vorsichtig zum anderen, "Ich glaube, wir können uns gar nicht trennen!"
"Du", sagte das andere Bein, nun wieder voller Liebe, "Noch besser - wir waren nie getrennt!"




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