Zu Halloween einen kleinen Abstecher in den Keller: "Hinter den Gleisen"

Hinter den Gleisen

Was mich an diesem Abend dazu treibt, mich in meine Gurke zu setzen und nach R zu fahren, ist eine Mischung aus Langeweile, Tanzlust und der Hoffnung, dort auf bekannte Gesichter zu treffen. Wenn die Freakdisse unserer Herzen im Örtchen K. geschlossen ist, und das ist sie am Samstag immer, gibt es in der Nähe von R, einem winzigen Dorf abseits aller nennenswerten Verkehrsstrecken, eine jüngeres Ausweichlokalität von ähnlichem Charakter und ähnlicher Musik. Der Weg dorthin ist jedoch weiter und weit abenteuerlicher, er führt auf kurvenreicher Strecke hinter dem Dorf noch einige Kilometer mitten durch den Wald, besonders bei Dunkelheit schon an sich ein nervenzerfetzender Parcours. Danach folgt noch ein Stück weites Hinterland bis zum Tempel des Tanzens, und deshalb nehme ich den Weg nur auf mich, wenn mir wirklich langweilig, die Sehnsucht nach tanzbarer Musik und Gesellschaft groß genug und das Wetter gut genug ist.

An diesem Sommerabend treffen alle drei Faktoren zu, und als ich durch die Waldserpentinen kurve, dämmert es gerade erst, es muss kurz vor zehn Uhr sein. Die Disse, vormals ein relativ kleines einzeln stehendes Bauernhaus, was man ihr noch ansieht, liegt jenseits des Waldes einsam zwischen Feldern. Der Schienenstrang einer eingleisigen, wahrscheinlich stillgelegten Bahnstrecke begrenzt ihr Territorium, das großenteils aus Parkplatz besteht. Und erstaunlicherweise ist dieser Parkplatz schon rappelvoll. Keine Lücke mehr, kein Platz, mein Auto abzustellen.

Ich parke also gleich am Zufahrtsweg und steige aus. Und weil der Abend so sommerlich lau und es drinnen, den parkenden Autos nach zu schließen, zu voll zum Tanzen ist, entschließe ich mich zu einem kleinen Spaziergang durch die alte, aus groben Steinen gemauerte Bahnunterführung den sparsam asphaltierten Wirtschaftsweg an den Feldern entlang. Noch keine dreißig Schritte bin ich gegangen, als ich etliche Meter vor mir aus einem mutmaßlichen Feldweg, der mutmaßlich in ein dahinter liegendes Waldstück führt, ein Mädchen auf meine asphaltierte Strecke einbiegen sehe. Und in die gleiche Richtung gehen, in die ich auch gehe, und in der nichts mehr liegt außer Feldern, bis zum Horizont. 

Später werde ich mich wundern, warum ich mich so gar nicht gewundert habe, dass eine einzelne junge Frau dort unterwegs war, wo es gar nichts mehr hinzugehen gibt außer eben: Feldern. Aber nein, daran verschwende ich keinen Gedanken, und seltsam kommt es mir scshon gar nicht vor. Alles, was ich denke, ist, dass es ja nette Gesellschaft sein könnte beim Spazierengehen, jemand zum Reden, und um sie einzuholen, beschleunige ich meinen Schritt. Sie dagegen geht langsam, aus einer Richtung, in der an sich nichts ist, in eine andere, in der auch nichts ist. In der Dämmerung, die inzwischen vom Mond erhellt wird, sehe ich, dass sie Jeans trägt und eine dieser Fensterlederjacken, die ein paar Jahre zuvor so gut wie alle Freakmädchen getragen haben. Und eine von diesen marokkanischen mit Mustern und kleinen Spiegeln bestickten Taschen, die auch fast alle tragen. Ich sehe das Mondlicht in den Spiegeln glitzern. Ich sehe das halblange glatte Haar des Mädchens. „Tramperin“ taucht als Definition in meinem Kopf auf, ich weiß nicht woher, das Wort ist einfach da, auf eine ganz prägnante Art und Weise, obwohl das hier wirklich das Gegenteil einer Gegend ist, in der Trampen irgendeinen Sinn machen würde.

Und ich wundere mich, dass, obwohl ich inzwischen, weil ich sie ja einholen will, viel schneller gehe als sie, sich der Abstand zwischen uns längst nicht so verringert wie er sollte. Als wären wir in zwei verschiedenen Räumen mit verschiedenen physikalischen Gesetzen unterwegs, nicht auf demselben asphaltierten Wirtschaftsweg. Ich muss mich anstrengen, während sie einfach so dahinschlendert, und das zumindest finde ich etwas seltsam. Später werde ich mich wundern, warum ich das nicht viel seltsamer gefunden habe.

Nach einer unpassend langen Zeit aber, in der ich wirklich einen für mich untypisch flotten Schritt angeschlagen hatte und sie einfach weitergeschlendert war, und ich ihr zwar irgendwie näher gekommen bin, aber längst nicht so schnell wie es hätte sein sollen, und in der sie nicht einmal bemerkt hat, dass jemand hinter ihr geht, bin ich tatsächlich nahe genug an ihr dran, um sie anzusprechen, damit sie sich nicht erschrickt. Ich sehe sie direkt schräg vor mir, fast neben mir, sehe ihr halblanges, mittelblondes Haar, die ihr von der Schulter hängende Tasche, mache den Mund auf...

und ehe ich auch nur einen Ton sagen kann von der vorsichtig-netten Ansprache, die ich mir unterwegs zurechtgelegt habe - löst sie sich einfach auf.

Und das tut sie auf eine ausgesprochen eigenartige Weise, also nicht wie man sich vorstellt, dass sich jemand auflöst (wenn man das überhaupt tut). Es ist das Jahr 1985, und erst viele Jahre später werde ich diese spezielle Art des Auflösens wiedersehen: in einem Computer. Das Mädchen, dem ich über eine so lange Strecke gefolgt war, bis sie direkt vor mir ging, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde an ihrer fleischlichen Existenz zu zweifeln - das Mädchen hatte sich weggepixelt! Es war tatsächlich so gewesen, als ob sie, das heißt, das Bild dieses Mädchens, das ich so deutlich als dreidimensionalen Körper wahrgenommen hatte, aus gleich großen oder besser: gleich kleinen Partikeln bestand, die nun vor meinen Augen in rasender Geschwindigkeit einzeln gelöscht wurden. Bis nichts mehr übrig war außer der ganz normalen Luft, ohne jede Spur von ihr.

Später wundere ich mich, dass ich mich selbst in diesem Moment nicht mehr gewundert habe, aber tatsächlich finde ich ihr Auflösen in dem Moment und in denen danach hauptsächlich unhöflich. Sie will nicht mit mir reden? „Na, denn nicht!“ sage ich laut und zickig. Und weil ihr plötzlicher Abgang mir - nachdem ich mir so viel Mühe gegeben hatte, sie einzuholen! - die Laune verdorben hat, mache ich mich beleidigt in den letzten Spuren der Dämmerung vor der vollen Dunkelheit auf den Rückweg, durch die Unterführung, zu Parkplatz und Disse.

Erst drinnen im dichtbevölkerten Raum fällt mir schlagartig wieder auf, dass Menschen sich normalerweise nicht einfach vor den eigenen Augen auflösen. „Andreas!“ sage, nein, brülle ich zu einem Kumpel, den ich gleich hinter der Tür entdeckt habe, „Ich glaube, ich habe eben einen Geist gesehen!“. Und während ich ihm von meinem Erlebnis mit der Tramperin berichte, überfällt es mich dann auch endlich, das zarte verstörte Grausen.


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