Mittelgang, "Traumazone", dritter und letzter Teil
Entsetzt
kehre ich zurück in mein Zimmer, zu meinem Bett, lasse mich wieder
verkabeln, es fühlt sich nach Niederlage an. Die Bilder aus den
anderen Zimmern schwanken immer noch vor meinen Augen und machen mir
Angst. Als wäre ich wieder übersensibles Kind, ängstlich und
machtlos und dem Horror ausgesetzt. Das neue Medikament wird mir in
die Adern gepumpt und schafft es tatsächlich, meinen Blutdruck zu
senken, auf fast normale Werte. Ich selbst merke keinen Unterschied,
richte mich nur noch nach den Zahlen, die sich jede Stunde ändern,
wenn sich die Manschette wieder aufbläst, und bald bin ich so
konditioniert, dass mir der Moment, in dem die Werte erscheinen, als
das Spannendste vorkommt, was dort passiert. Als ob das alles ist,
was noch zählt. Als hätte sich mein Blut selbst in Zahlenwerte
verwandelt, als gäbe es nun nichts mehr, was an mir lebendiger ist
als das. Oder überhaupt von Interesse.
Es
ist Nacht, als ich zum ersten Mal wieder die Normalwerte sehe.
Künstlich gedrückt, aber immerhin, es funktioniert.
Und
dann kommt Schwester Sabine herein. Die kleine fette Kobra. Klein,
überall rund, einen blondierten Modebob wie ein Strickmützchen um
den Kugelkopf. Hellblaue Kluft, hellblauer Lidschatten. Blond und
hellblau und rund, wie harmlos das erscheint, wie eine Mischung aus
Weihnachtsengel und -Kugel, aber ich registriere Kälte in ihr und um
sie. Und die Augen, trotz hellblauen Lidschattens, ja, wie eine
Kobra. Gnadenlos und eisig. Ihre aufgesetzte Schwesternfreundlichkeit
glaube ich ihr keine Minute.
Und
ich habe recht. Später in der Nacht brüllt sie mit viperngleicher
Angriffslust auf meine Bettnachbarin ein, die immer noch Katatonie
spielt, nichts sagt und nicht auf den Toilettenstuhl will. Immer
wieder brüllt die Schwester dasselbe, keift den Namen der Patientin
im Stakkato, endlos, mit einem Ton, als würde sie eine Stahltür
zersägen. Foltertechnik. Die Patientin wünscht sich inzwischen
sicher innig, anders zu heißen. Ich auch. Innerhalb von drei Minuten
möchte ich sie töten, die kleine fette Kobra, schon um einfach Ruhe
zu haben, ihr meine mir aus dem Rücken wachsenden Kabel um den
kurzen Hals schlingen und sie damit erwürgen. Soll meine
Bettnachbarin doch ins Bett pinkeln, meine Güte, ja, und das ist
Arbeit für die Kobra, aber muss die Scheinschwester deshalb eine
derartige Kaskade bösartiger Aggression ablassen? Mein Blutdruck
steigt innerhalb einer Messung von einhundertfünfzig auf
einhundertneunzig, trotz Blutdrucksenker, adieu, normale Werte,
danke, Schwester Sabine!! „Sie hatte einen Schlaganfall, vielleicht
kann sie ja nicht reden?!“ werfe ich ein. Was kann, was soll ich
tun? Wohin mit meiner Mordlust? Die Schwester hat heute nacht Dienst
und ich werde sie brauchen, um abgekabelt zu werden und zur Toilette
gehen zu können, ich kann es mir nicht restlos mit ihr verderben.
Leider.
„Doch,
sie kann!“ zischt die Kobra. Sie wertet das Verhalten meiner
Bettnachbarin als Insubordination, und ihr Ton verrät, dass sie sie
dafür gern auspeitschen ließe. Alles Schwesterngetue ist von ihr
abgefallen. Sie wäre eine erstklassige KZ-Kommandantin gewesen.
Später wird sie versuchen, ihre Schwesternmaske wieder auf ihrem
Gesicht zusammenzupappen, mir gegenüber einen kumpelhaften Ton
anzuschlagen, sich bei mir anzuwanzen. Ich verbleibe in stillem
Ekel, mein Blutdruck auf zweihundert systolisch. Schlafen kann ich
nicht mehr. Nicht nur deswegen. Ich erfahre, dass die Monitore einen
Konstruktionsfehler haben, und wenn einer Alarm schlägt, tun es
alle. Selbst wenn ich eindöse, schrecke ich nach einer halben Stunde
spätestens wieder hoch, weil ein Gerät schrillt. Die ganze Nacht
hindurch, immer wieder, und falls gerade Ruhe herrscht, pumpt sich
eben meine Manschette wieder auf. Ich lese, döse, schrecke hoch –
aber ich werde diesen Stupor los, der mich den ganzen Tag belegt
hatte. Ich fühle mich grauenhaft, aber ich fühle mich wieder. Mir
fällt wieder ein, dass die Kabel und der Perfusor nicht Teil von mir
sind, dass ich nicht ein hilf-und willenloses Maschinenwesen bin, ich
weiß wieder, dass ich vorher nicht ausgeliefert war – und dass ich
es nicht sein muss.
Mit
jedem Hochschrecken, jedem Alarm werde ich meiner selbst bewusster,
kehrt mein Wille zurück. Ich kann Entscheidungen treffen, fällt mir
wieder ein. Und ich weiß, dass ich gehen kann, ich kann hinausgehen,
ich kann auf die weiteren Untersuchungen, die für notwendig gehalten
und mir dringend angeraten wurden, verzichten, nein: ich muss. Ich
darf hier nicht über das Wochenende bleiben, ich brauche Ruhe und
Regeneration, keinen Horror, keinen Terror.
Der
Morgen dämmert, regnerisch, unfreundlich, düster, es ist kein Tag,
an dem man wiedergeboren werden will, ich tue es trotzdem. Fühle
mich, als hätte ich ein Schwert in der Hand, das die unseligen Kabel
einfach durchtrennt, fühle mich, als könnte, müsste ich damit über
den Flur rennen und all die anderen wecken, „raus hier!“ brüllen
und das Leben zurückbringen. Das gefühlte Leben, nicht diese
stumpfe, hilflose Resignation, nicht das Vegetieren im Krankenbett
mit den zurückgeschlagenen Decken und den jedem durch den Flur
Wandernden preisgegebenen Leibern, nicht das würdelose apathische
Geschehenlassen. Die leeren Augen.
Doch
vorerst reicht die Kraft nur für mich. Eine neue Schwester kommt
herein, eine, die nicht den Ruch der anderen Schwestern mit sich
trägt, die sich anfühlt und riecht, als wüsste sie, was draußen
ist. Sie bringt Frische und Lebendigkeit mit sich. Ich rede mit ihr,
plaudere, erfahre, dass sie im Erstberuf eine der Pferdekutschen
führt, mit denen man die Stadt besichtigen kann. Sie lacht, als ich
ihr sage, dass sie so lebendig wirkt, während mir immer wieder
heimliche Tränen in die Augen steigen. Ich fühle wieder.
Visite.
Drei sind es, drei Weißkittel, zwei Männer, eine Frau. In ihren
Kitteln wirken sie so wenig glaubwürdig wie ein Casting für eine
Dokushow auf RTL. Ein langer Blonder, der tags zuvor, wie ich mich
bruchstückhaft erinnern kann, mit kaum verhohlenem Desinteresse die
Symmetrietests mit mir durchgeführt hatte, mit denen man
Schlaganfälle testet. Die Neurologin aus der Notaufnahme hatte das
weitaus persönlicher und geradezu liebevoll gemacht, der Blonde
hatte gewirkt, als hätte er ein Kindergartenpraktikum aufs Auge
gedrückt bekommen. Als könnte ihm kaum etwas egaler sein als die
Ergebnisse. Reinste, dämlichste, langweiligste Routine. Der kleinere
Schwarzhaarige mit dem dramatischen Bartschatten, wohlgenährt und
anscheinend froh, selber nicht aktiv sein zu müssen, hatte mit der
Frau herumgeflüstert wie ein Hinterbänkler in der Schule.
Upper-Class-Deppen. Arztdarsteller. Na, auch schon den
hippokratischen Meineid geleistet? Gelangweilt hatten sie die Visite
abgefrühstückt. Ich hatte sie vergessen, sobald sie wieder aus dem
Raum gegangen waren. Keine persönlichen Fragen, kein Interesse am
Patienten. Sie hatten sich so verhalten, wie man sich Fleisch
gegenüber verhält. Einfach nur Job machen und dann Kaffeetrinken
gehen oder auf den Golfplatz.
Ich
war noch im Stupor gewesen, als sie das erste Mal aufgetaucht waren.
Nun warte ich, denn sie werden mich entlassen müssen. Ich schlummere
noch einmal ein, entdecke sie beim Erwachen, sie stehen um meine
stumme Bettnachbarin herum. Mit der frischen Schwester hatte die kurz
geredet, wenig, aber immerhin. Ich würde auch gern mit ihr reden,
sie fragen, ob sie sich auch so traumatisiert fühlt – aber die
Zeit ist vorüber. Jetzt ist es zu spät, jetzt muss ich ausbrechen.
Die
Arztdarsteller, das Triumvirat, reagieren auf mein Verlangen,
entlassen zu werden, mit mahnenden Arztdarstellerworten.
Angstmacherei. Es könnte mich ja jederzeit wieder treffen und dann
richtig schlimm, immerhin hätte ich ja schon Läsionen im Gehirn
davongetragen, die auf dem CT sichtbar wären, und würde ich das
riskieren wollen? Bei meinem Blutdruck?? Ich werde wütend. Ich werde
immer wütend, wenn man mich für blöd hält. Und ich halte die drei
für so blöd, dass ich ihnen jedes Recht abspreche, mich für blöd
halten zu dürfen. Was wären sie ohne ihre Maschinen? Was könnte
ihnen wohl einfallen, außer mich mit Blutdrucksenkern weiter
abzufüllen? Und dann? Interessiert es sie, warum der so hoch ist?
Wird es sie je interessieren?
Ich
wasche ihnen den Kopf, oh ja, eine flammende Rede halte ich, in meinem hinten offenen
Kittel, der sich plötzlich nach altrömischer Senatorentoga anfühlt. Halte ihnen vor, wie kontraproduktiv ihre Angstmacherei ist. Natürlich wisse ich, was passieren könnte,
aber das sei meine Verantwortung, und bevor sich meine Lebensumstände
nicht ändern würden, die mir so elenden Stress bereiten, würde
sich mein Blutdruck auch nicht ändern, und wenn ich monatelang im
Krankenhaus läge! So etwas oder etwas Ähnliches sage ich, laut sage ich es, brülle beinahe - und
sie stehen da wie dumme Jungen auf dem Schulhof. Ich bin wütend. Ich
bin elementar wütend, über diese Travestie, die sie aufführen. Diese ganze Zumutung aus keifenden Kobras und schrillenden Gerätschaften. Ich bin wütend, müde, traumatisiert, aber die Wut ist gerade stärker als alles
andere, auch wenn ich die Bilder dieser ungemessenen Zeit noch wochenlang in mir
tragen werde. Auch wenn ich noch Angst habe und mich verletzlich
fühle, auslöschbar, auch wenn ich mich innerlich hemmungslos sehne
nach Trost, nach Zuspruch, nach Berührung, nach einer Hand, die
meine hält, einer Stimme, die mir sagt, dass alles gut wird - und
weiß, dass das alles nicht da ist, nicht in meinem Leben, ob ich nun
hinausgehe oder drinnen bleibe...
Ich
bin wütend. Und wenn niemand im Zimmer ist außer meiner
schweigenden Bettnachbarin, heule ich mir die Augen aus. Die Wut ist
mein Exoskelett, innen bin ich ein furchtsames Weichtier. Aber es hat
gereicht, sie hat Eindruck gemacht, ich bekomme binnen Minuten das
Schreiben, dass ich auf eigenen Wunsch entlassen werde, unterzeichne
es und bin frei. Frei jedenfalls von hier. Der Dunkelhaarige mit dem
dramatischen Bartschatten eilt noch einmal mit dem Schreiben an den
Hausarzt herbei, er wirkt immer noch beeindruckt. So beeindruckt, dass er ganz vergisst, mir blutdrucksenkende Medikamente für zuhause mitzugeben, was ja eigentlich sinnhaft gewesen wäre. Wären wir im
Theater gewesen, hätte ich Szenenapplaus bekommen für meinen Auftritt, hier bleibt mir nur dessen Wirkung. Die frische
Schwester, die, die auch draußen noch ein Leben hat, verabschiedet
sich von mir so nett, als hätten wir uns auf einen Kaffee getroffen. Meine Sachen habe ich schon gepackt, ich greife sie und bin draußen, ehe noch irgendwer auf die Idee kommt, mich zurückzuhalten.
Es
regnet. Es ist kalt. Es ist Juli und fühlt sich an wie November. Ich
fühle mich klein, einsam, desorientiert. Aber die Traumazone liegt hinter mir, ich bin draußen.
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