Mittelgang: "Traumazone", Teil 2

Oben in der Notaufnahme musste man klingeln, um am Eingang abgeholt zu werden, und sich vorher die Hände desinfizieren. In der Traumazone muss man irgendwie gar nichts. Hanna fällt das auf.

Wir arbeiten immer noch an der Liste. Eine kleine junge Krankenschwester notiert beiläufig die Stations-Telefonnummer und drückt Hanna den Zettel in die Hand, mit der Bemerkung, damit sie anrufen könnte, falls sie den Schlüssel vergessen hätte. Eine prophetische Bemerkung, denn tatsächlich – wir denken beide, der Schlüssel wäre im Rucksack, den Hanna mitnimmt, um die Notwendigkeiten hineinzupacken, aber nein, der steckt in meiner Jeanstasche. Und Hanna steht zwanzig Minuten später vor meiner verschlossenen Tür und ruft tatsächlich die Nummer der Station an.

Ich stecke inzwischen in einem altmodischen Kittel, einen von diesen hinten offenen, mit einem Muster aus den Vierziger Jahren, und in einem Zimmer, in dem im anderen Bett ein Mann liegt. Die Betten sind durch eine Art Duschvorhang voneinander getrennt. Mir fällt auf, dass diese Station so gar nicht wirkt wie ich mir eine Intensivstation vorstelle, eher wie ein altmodisches Behelfskrankenhaus. Der Charme von Zeven anno 1974. Lazarettartig. So als hätte man entsorgtes Mobiliar darin untergebracht, wahllos und altertümlich. Große Überwachungsmonitore stehen an jedem Bett und schaffen es, nicht nach High Tech auszusehen, sondern nach Vorstufen medizinischer Entwicklung. Die Geräte, an die meine Kinder damals angeschlossen waren, vor über zwanzig Jahren auf der Kinderintensivstation, hatten weit moderner gewirkt, weit vertrauenswürdiger, seltsam, wie man das wahrnimmt, und es ist ein Eindruck, den man zunächst nicht einmal an bestimmten Eigenschaften festmachen kann.

Ich habe eine Braunüle in den Arm gesteckt bekommen, durch die mir ein blutdrucksenkendes Medikament eingeflößt werden wird. Es kommt aus einem Perfusor, der auf einem Ständer neben dem Bett steht. Außerdem werde ich mit Elektroden beklebt, an die eine Menge dicker grauer Kabel angeschlossen wird, eine neunschwänzige Kabelkatze sozusagen. Ich fühle mich, als würde ich in eine Borg-Drohne verwandelt. An ein System angeschlossen, das mich zu einer halben Maschine macht, zu einem Teil des Systems. Ich verliere meine Autarkie, werde hilflos gemacht, in meinem offenen Kittel mit dem altmodischen Vierziger-Jahre-Muster, an den Monitor gefesselt, mit einer Manschette um den Arm, die sich alle Stunde aufpumpen und meinen Blutdruck messen wird, der dann auf dem Monitor erscheinen wird. Ich werde einer Schwester klingeln müssen, wenn ich auf die Toilette muss, werde zuerst entkabelt werden und dann mit dem Perfusor und dessen Ständer den Gang entlang zum Klo wandeln müssen, in schwesterlicher Begleitung, und natürlich darf man das Klo nicht abschließen, für den Fall, dass man umkippt. Jetzt fange ich an, mich krank zu fühlen, und es gefällt mir nicht. Es ist eine ungute Art des Krankfühlens, die langsam in mich einsickert wie der Blutdrucksenker. Mein Vertrauen schwindet, meine Alarmsysteme springen an.

Doch zunächst bin ich froh, liegen zu können. Der Mann neben mir hat sich einen Fernseher organisieren lassen und schaut Frauenfußball, die Weltmeisterschaft, ich höre es leise. Ob es mich störe, fragt er, nein, tut es nicht. Er würde den Fernseher auch in die Mitte schieben, falls ich mitschauen wollte, bietet er an, aber danach ist mir nicht. Die leisen Geräusche beruhigen mich etwas, mehr Teilhabe brauche ich nicht. Und immerhin, mein Nachbar ist mir durch die Frage unfremd und sympathisch geworden, das tut schon mal gut. Ich liege, versuche zu entspannen, warte auf Hanna. Mein Lüneburger Sohn kommt vorbei, erschrocken, Hanna hat ihm Bescheid gegeben, er schaut auf dem Weg zur Spätschicht herein. Große besorgte Augen, als er mich im Bett liegen sieht, in dem hinten offenen Kittel, mit den Kabeln an den Monitor gedrahtet und den Perfusorschlauch im Arm. Es gibt nicht viel zu sagen, und als er wieder geht, wirkt es, als würde er fliehen. Ich kann es ihm nicht verdenken.

Was ist das hier überhaupt? Intensivstation, haben sie gesagt, aber eine Intensivstation müsste ganz anders sein. Ruhiger. Sauberer. Behütet. Es herrscht keine Ruhe hier. Als seien die Patienten keine Fürsorge wert, als würden sie nur abgestellt.

Hinten im Flur das Schwesternzimmer, offen, großer Tisch, Deutschlandfahne an der Wand, wegen der WM hoffentlich, und auf dem Tisch Getränke, Flaschen, Becher. Partyzone, Aufenthaltsraum, und nein, auch das wirkt nicht vertrauenswürdig, eher wie ein Container auf einer Baustelle. Was habe ich, ich bin doch sonst nicht so etepetete? Aber hier fällt mir auf, wie beruhigend Ordnung und die Codes der Kompetenz in manchen Situationen sein können, und wie beunruhigend es ist, wenn sie fehlen. Gerade weil man sich selber so inkompetent, verletzlich und hilflos fühlt. An Kabeln hängt und zum Pinkeln begleitet werden muss und sich danach sehnt, liebevoll und persönlich behandelt zu werden, so kitschig das sein mag. Es muss nicht viel sein; die altgediente Nachtschwester damals in der Frauenklinik, die mir nach dem Notkaiserschnitt und dem Aufwachen schwungvoll Franzbranntwein auf den Rücken klatschte, hatte das so fürsorglich gemacht, dass sie auch meine inneren Lebensgeister mitgeweckt hatte.

Trotz allem und zu meinem eigenen Erstaunen schlafe ich in dieser Nacht ein paar Stunden. Der Blutdruck bleibt in schwindelerregender Höhe, trotz Perfusor, erst am nächsten Abend wird irgendwer darauf kommen, das Medikament zu wechseln. Was mir natürlich niemand sagt, wer bin ich auch schon? Nur der Patient. Der Blutdruck. Es wird einfach die Flasche gewechselt, als würde nicht ein Mensch dranhängen.

Mein netter Nachbar wird in ein anderes Zimmer verlegt. Zu mir kommt eine Frau, klein, um die sechzig. Ihre Familie sitzt mit schweren Gesichtern stumm um sie herum, niemand sagt etwas, die Frau selbst liegt im Bett und hält die Augen geschlossen, als wollte sie entweder ganz woanders oder überhaupt nicht mehr da sein. Die junge Frau und der junge Mann, ihre Kinder wohl, kommen mir bekannt vor, ich könnte schwören, dass ich beide schon öfter gesehen habe, dass sie in meiner Erinnerung Sanitäter sind, alle beide, und ich sie gemeinsam gesehen habe. Aber wie und wo? Ich bin mir sicher, aber wie ich darauf komme, wo ich sie gesehen haben will und ob das stimmt oder ich nur halluziniere, bleibt mir schleierhaft. Wann sehe ich denn schon mal Sanitäter, ganz zu schweigen von einem Sanitäterpärchen?

Aber es interessiert mich, was der stummen Frau passiert ist. Irgendwann, am nächsten Tag, glaube ich, frage ich die Tochter und erfahre, dass die Frau morgens zur Chemotherapie ins Krankenhaus gekommen war und gleich mehrere Schlaganfälle bekommen hatte. Chemo und Charybdis. Ich verstehe, warum sie nichts hören, nichts sehen und nichts sagen will.

Seit ich aufgewacht bin, wird alles zusehends surreal, das unmotivierte Reinigungspersonal, das morgens hereinbricht, Schrubber im Anschlag, oder die Schwester, die eine Plastikschüssel auf den Nachttisch stellt und mich waschen will. Aber ich will nicht gewaschen werden. Ich empfinde keinen Bedarf, weiß nicht, was sie will, kann das nicht mit mir in Verbindung bringen. Gewaschen werden? Sie fragt nicht, ob ich mich selber waschen möchte. Ob ich das verstanden hätte? Ich habe gar kein Gefühl mehr für meine körperlichen Bedürfnisse jenseits der Schläuche. Wer ist es, die gewaschen werden soll?

Die Schwester scheint irgendwie beleidigt,dass ich ihren Dienst verweigere. Als hätte ich sie damit entwertet. Tut mir ja leid, aber – mit Waschlappen und Plastikschüssel? So weit isses doch noch nicht, dafür müsste ich hier schon länger liegen. Oder?

Mehr und mehr versacke ich in einer Art Zwischenwelt, in der sich Eindrücke immer sinn- und zusammenhangloser vermischen, und ich immer weniger unterscheiden kann, was real ist und was ich mir nur einbilde. Ich liege an meinen Kabeln und lasse geschehen. Als würde mir etwas den Willen entziehen, als würde sich alles, gerade auch das, was mir zuvor noch real erschienen war, in pure Halluzination verwandeln, unwirklich werden, mir entgleiten. Oder ich ihm. Oder beides beidem.Ich werde mich kaum mehr an diesen Tag erinnern, nur noch in Fragmenten, und habe ich ihn überhaupt wirklich dort verbracht? Im Bett werde ich zum Ultraschall gefahren, die Blutgefäße, die zu meinem Hirn führen, auf Ablagerungen untersucht. Im Bett werde ich auf dem Flur abgestellt, warte, etwas später schiebt mich der nette Mann, der die Ultraschalldiagnostik macht, in den Behandlungsraum, fährt meine Adern ab. Mein Gesichtsfeld ist so eingeschränkt, dass ich nur den sehe, der direkt vor mir oder über mir steht, sonst nichts. Und das Erschreckende: ich habe gar kein Bedürfnis, mehr zu sehen. Und was ich sehe, vergesse ich gleich wieder, sobald es ausser Sicht ist. Es ist, als hätte ich nie etwas anderes getan als im Bett zu liegen und herumgerollt zu werden. Ich höre, wenn mich jemand anspricht, aber wende noch nicht einmal den Kopf. Und das bin nicht ich, das ist eine zweidimensionale Ausgabe meiner, wenn überhaupt, das ist weniger als ich. Viel weniger.

Wir unterhalten uns immerhin, der Ultraschallmann und ich, während er Bilder von mir macht, aber ich weiß nicht mehr, worüber. Alles weht sofort wieder weg. Ich habe mein Herz gesehen auf dem Ultraschall, das weiß ich, aber die Gefäße zum Hirn hin nicht. Wie kann das sein? Habe ich mir das eingebildet? Es werden nur noch Fetzen und Fragmente dieses Ausflugs auftauchen, die sich nicht sinnvoll zusammenfügen lassen, so sehr ich mich auch bemühe. Als hätte jemand den Tag zerrissen wie eine Zeitungsseite. Als wäre ich unter Drogen gesetzt, und ja, vielleicht bin ich das sogar. Irgendwann werde ich auf die Station unten zurückgebracht, in mein Zimmer. Die schweigende Frau mit den geschlossenen Augen liegt immer noch genau so da.

An diesem Tag besitzt nur das Essen noch eine Art verlässlicher Realität: die des Geschmacklosen. Frühstück, Mittag, Abendessen, Billignahrung. Abgepackt in Plastikpäckchen. Eine Tasse Tee dazu. Am ersten Abend hatte mir eine burschikose, aber fürsorgliche Schwester, eine vom alten Schlag, extra noch ein Abendbrot besorgt, zwei Scheiben Schwarzbrot, dazu einen Rest Kohlrabirohkost, und an die kann ich mich außerordentlich gut erinnern. Lecker und frisch war sie, und ich hatte gedacht, was das doch für eine gute Idee sei, Kohlrabi geraspelt und mit Vinaigrette angemacht, und dass ich das auch einmal machen sollte. Nichts sonst seit Hanna gegangen war besitzt in meiner Erinnerung so viel positive Präsenz wie diese Kohlrabirohkost, die vorerst letzte lebendige Nahrung. Ich möchte noch im Nachhinein dem die Hand schütteln, der sie gemacht hat. Auch die Schwester habe ich noch mit meinem wachen Bewusstsein gespeichert, ihre raue Fürsorglichkeit ein seltenes Labsal. Alles andere versinkt sofort und immer wieder in einem Brei, aus dem nur die zweifelhaften Brocken in mein Bewusstsein ragen; es ist wie einer dieser Filme, in denen Leonardo di Caprio mitspielt, es ist ein bisschen Shutter Island, fast warte ich, dass er als Patient auftaucht, ein Patient, der sich einbildet, Arzt zu sein, oder vielleicht umgekehrt. Es würde mich nicht wundern.

Es muss am zweiten Abend sein, dass ich einmal kurz abgekabelt werde und mich plötzlich wieder frei fühle, mich daran erinnere, wie man sich frei fühlt, ohne den Kabelwust, ohne den Perfusor. Ich gehe zur Toilette wie ein freier Mensch, aufrecht und neugierig, und schaue auf dem Weg in die verschiedenen Zimmer. Sehe Menschen, die hilflos wie Käfer auf dem Rücken auf ihren Betten liegen, alle in den schrecklichen offenen Kitteln, die alle Arten von Fleisch sehen lassen. Zurückgeschlagene Decken, trübe, leere, traurige Augen, abgelegtes Fleisch, an dem sich Schwestern zu schaffen machen. Munter miteinander quatschende Schwestern, niemand scheint mit den zu Behandelnden zu reden, niemand sie als Personen wahrzunehmen. Ich, die draußen vorbeigeht, selbständig, fühle mich unpassend lebendig, denn eine Aura von Leb- und Hoffnungslosigkeit, in die ich nicht gehöre, durchzieht den gesamten Flur. Es ist, als würde ich spuken. Ich bin erschüttert. Was wird hier gemacht? Es könnten auch Experimente an Menschen sein, wenn es mir jemand erzählen würde, ich würde es unbesehen glauben. Würde mich nicht wundern, wenn im nächsten Raum Köpfe in Formaldehyd aufbewahrt würden, mit ebenso leeren Augen wie die, die mich aus den Zimmern anstarren, während ich mich mühe, nicht auf ihre entblößten Körper zu starren. Traumazone.




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