Zurück zum Mittelgang: "Traumazone", erster Teil von dreien

Traumazone

Dabei war der Tag noch nicht einmal anstrengend gewesen, nicht wirklich. Hanna und ich hatten das Multifunktionscenter abgeholt, das in der Reparatur gewesen war. Zu mir nach Haus gebracht, im Supermarkt Abendessen und Alsterwasser eingekauft, dann waren wir zu Stefan gefahren. Nudeln kochen, Soße machen, Alster trinken. Nicht wirklich Stress, denkt man. Doch dann wurde mein linker Arm taub, beim Essen, einfach so.

So hatte das mit der TIA angefangen, ein halbes Jahr zuvor. Erst der taube Arm, dann, während der Arm sich allmählich wieder enttäubte, war das Bein dran gewesen. Der Fuß hatte sich verdreht, schleifte seltsam schräg an mir herum, kaum zu kontrollieren, monströser Gang deshalb, wie Frankensteins Kreatur im Film, Poltern gegen die Türrahmen inklusive. Was soll man tun? Man steht neben sich und überlegt und hofft,dass alles wieder vorbeigeht, weil ja der Arm schon wieder lebendig ist, aber das mit dem Bein scheint schlimmer. Man hofft, dass es sich auch wieder auflösen wird, und während man hofft und wandert, so gut man kann, in der Hoffnung, dass das hilft, und in das entsetzte Gesicht des Sohnes starrt, der gerade mal zu Besuch aus Hamburg kam und mit der mutierenden Mutter überfordert ist, steht man neben sich, mit dieser surrealen Leere im Kopf. Keine Panik. Doch, ein bisschen Panik, als die Lähmung in die linke Gesichtshälfte zieht. Ich sehe zur Hälfte aus wie Angela Merkel, der Spiegel zeigt es. Aber meine Zunge ragt auch noch wie im Krampf nach links aus dem Mund, was sie bei Frau Merkel nicht tut. Ich kann nicht mehr verständlich sprechen. Was heißt, dass der Zeitpunkt verpasst ist, den Krankenwagen zu rufen. Aber gottseidank, ins Bein kehrt Gefühl zurück. Dem Sohn fällt auch nichts ein, mit großen erschrockenen Augen schaut er auf die Mutter, die monströs verwandelte. Schlägt vor, sie möge sich hinlegen, ja, hinlegen ist gut, ich bin müde. Nach einer halben Stunde sind die Symptome wieder verschwunden. Tage später werde ich, dank Dr. Google, wissen, was es war. Und dass ich Glück hatte. Eine TIA ist auch ein Schlaganfall, ein vorübergehender, aber – weiß man das? Ja, hinterher und dank Dr. Google.

Nach dem Erlebnis hatte ich mir selber auferlegt, beim nächsten Mal die Stroke Unit anzurufen. Gleich, bevor die Zunge krampft. Kein Risiko einzugehen. So, und nun saß ich hier bei Stefan am Abendbrottisch, mit taubem Arm. Verdammt. Wie uncool! Was soll ich denn jetzt machen? Dieses Mal erwischt es gleich mein Sprachzentrum. Keine weiteren tauben Gliedmaßen, dafür verliere ich zunehmend die Kontrolle über meine Sprachmotorik. Es ist, als würde mein Mund mit mir durchgehen, andere Laute formen als ich beabsichtige, ein bisschen zu spät zu bremsen, so dass noch ein Laut mehr herauskommt. Die Worte verwaschen. Ich muss dreimal versuchen, damit ich eins einmal korrekt ausspreche, und während ich es versuche, merke ich, wie es schlimmer wird. Stefan und Hanna suchen nach Aspirin, finden welches, lösen mir zwei Brausetabletten auf, flößen sie mir ein. Führen mich aufs Sofa, auf das ich mich dankbar und ein bisschen beschämt lege, o Gott, man fühlt sich so – hilflos. So defekt. Ich bin auch ein kaputtes Multifunktionscenter. Aber wer repariert mich?

Hanna und Stefan lassen mich in Ruhe, obwohl das Hanna schwerfällt und sie immer mal wieder heimlich einen Blick durch die Tür wirft, ob ich noch lebe. Ja, tue ich, ich übe sprechen, und allmählich erlange ich wieder Kontrolle über meine Sprachfähigkeit. Vor lauter Freude darüber ergehe ich mich in rhetorischen Kaskaden, so wie man mit einem Fahrzeug, das einem zwischenzeitlich entglitten war, verwegene Kurven fährt, nur um zu wissen, dass man´s wieder kann, oder noch immer.

Ich funktioniere wieder. Aber es kann wiederkommen, jederzeit, und Hanna ist nicht wohl bei dem Gedanken, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Sie schlägt mir vor, mich ins Krankenhaus zu fahren und die Sache checken zu lassen. Ich erinnere mich daran, wie überfordert ich beim letzten Mal gewesen war, und dass ich mir selbst gelobt hatte, das nicht noch einmal zu sein. Gut. Krankenhaus. Hanna kommt mit, versichert sie, ich bin also nicht allein, so gut werde ich es wohl so schnell nicht mehr haben. Und ich kann erhobenen Hauptes und auf eigenen Füßen hineinwandern. Irgendwie ist mir das gerade wichtig: kein hilfloses Opfer zu sein, kein fehlerhafter Fleischberg, der irgendwelchen routinierten Prozeduren unterworfen wird, sondern eine Persönlichkeit, ein Individuum. So verletzlich es auch sein mag.

Es ist friedlich in der neurologischen Notaufnahme. Eine zarte, nette, liebevolle junge Ärztin, die die Reflexe testet, als würde sie einen liebkosen. Ich freue mich, dass Hanna dabei ist, bei mir, es macht mich stark. Wir spaßen herum, ich fühle mich fast wieder gut, mein Sprachvermögen hält, es gibt keine weiteren Ausfallerscheinungen. Hanna hat einen Rollstuhl organisiert und mich damit herumgefahren, besteht darauf, das auch weiterhin zu tun. Es ist mir ein bisschen peinlich, weil ich ja laufen kann, aber, naja, es macht auch Spaß.

Man misst meinen Blutdruck, der sagenhafte 266 zu 150 aufweist. Jackpot des Tages. Ich hätte ihn gern in Euro ausgezahlt gehabt, es wäre mehr gewesen als das, von dem ich jeden Monat lebe. Man holt noch ein zweites Messgerät, so dass ich an beiden Armen die Aufpumpflügel trage und aussehe wie eine überalterte Nichtschwimmerin. Hanna würde zu gern ein Foto davon machen. Beide Geräte zeigen dasselbe Ergebnis. Mit diesem Blutdruck komme ich da so schnell nicht wieder heraus, das ist mir klar.

Ein CT wird angeordnet, Hanna und ich fahren, immer noch gutgelaunt, in den Keller, ein CT wollte ich schon immer mal gemacht haben, sage ich, dann hätte ich einen Beweis, dass ich tatsächlich ein Hirn besitze – als ob daran jemand zweifeln würde. Nein, im Ernst, ich will wissen, ob sich die anderen Attacken irgendwie auf der Aufnahme zeigen. Ob man sehen kann, dass da schon ein-, zweimal etwas passiert ist, und was und wo...

Unten ist es ebenso friedlich wie in der neurologischen Notaufnahme, eine sehr nette RTA freut sich, dass wir kommen. Hanna muss draußen warten, schaut aber grinsend durch ein Fenster in der Tür, während ich den Kopf in den Reifen stecke. Es dauert nicht lange, schade, es war angenehm. Dort unten ist alles High Tech, so wie man es aus den Krankenhausserien kennt, ein bisschen futuristisch, Science Fiction, auf angenehme Weise. Seltsam, wie vertrauenswürdig Technik wirken kann, besonders Technik, die von freundlichen Menschen bedient wird.

Wir fahren wieder nach oben, und die zarte Ärztin hält es für richtig, mich einweisen zu lassen. Auf die Beobachtungsstation. Ich stelle mir so einen High Tech-Himmel vor wie die Zone, in der das CT-Gerät steht. Es ist Donnerstagabend, die Ärztin meint, dass erst ab dem Wochenanfang die wichtigen Untersuchungen gemacht werden können, auch das MRT. Das MRT, darauf bin ich scharf. Ich will wissen, ich will sehen, ich will lernen... aber will ich bis zum nächsten Mittwoch im Krankenhaus bleiben? Ja, ich weiß, dass vorerst alle Argumentation dagegen von meinem Blutdruck mattgesetzt werden kann. Und dass ich auch nicht allein zuhause liegen will und Angst haben, dass es eine nächste Welle gibt.

Hanna und ich verschwinden nach draußen in den Raucherpavillon, um eine Liste von Sachen zusammenzustellen, die ich für die Nacht brauche. Oder besser: die Nächte. Warum fällt einer das so schwer ein? Was braucht man, Zahnbürste, Waschlappen, - ich habe gar keine Waschlappen -, Schlüpfer und...? Ich bin viel zu sehr davon abgelenkt, zu vermerken, dass Zigarettenrauchen bei Schlaganfallverdacht eine ungemein verwegene Note hat, noch schärfer als Schule schwänzen. Und ja, ich brauche eine Zigarette, dies ist eine der Gelegenheiten, bei denen man sich danach regelrecht sehnt. Sehn-Sucht. Jetzt erst recht, sagt mein trotziger Kopf, und zum Festhalten.

Bis dahin ist noch alles in Ordnung, irgendwie, den Umständen entsprechend, wie man so sagt. Hanna ist noch da, vorläufige Entscheidungen sind getroffen worden, wir haben erstmal das Beste draus gemacht. Unsere Liste ist konfus, Hanna notiert sich, wo sie was in der Wohnung finden wird. Und dann bringt sie mich nach unten. In die Beobachtungsstation, die Stroke Unit, wie sie aus werbetechnischen Gründen auch genannt wird. Ich werde sie sehr bald die Traumazone nennen.


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