Weiter im Mittelgang: die Zoogeschichte, Teil 2
Jerry
benutzt die Kerne, um Revier zu markieren und kleine provokante
Übergriffe auf „Peters Bank“ darzustellen. Ingo auf seiner Bank
muss wirklich wachsam sein, denn was Jörg als nächstes tut, weiß
er absolut nicht. Wir haben einen wunderbar unberechenbaren Jerry und
einen Peter, dessen Aufmerksamkeit nicht gespielt ist. Und dass Peter
gemeinsam mit dem Publikum einfach nicht weiß, was der Eindringling
vorhat und auf jeden Einfall Jerrys neu reagieren muss, bringt über
diesen Subtext eine Intensität in ihr Spiel, die ungebrochen über
die Rampe kommt, gerade weil sie nicht herübergespielt wird, sondern
im intimen Raum zwischen ihnen oszilliert.
Wir
sind inzwischen vom Proberaum auf die Schulbühne gewechselt, was mir
besser gefällt, denn erstens können wir den Raum nutzen lernen, der
uns für die Aufführung zur Verfügung stehen wird und mehr
Möglichkeiten bietet als ein Klassenzimmer – und zweitens kann ich
auf den Zuschauerplätzen sitzen und überprüfen, was dort ankommt.
Was das Publikum sehen, was es spüren wird.
An
mir selbst fällt mir auf, dass ich, sobald ich zu den Proben komme,
alles hinter mir lasse, was sich an Problemen und Ärgernissen in
meinem sonstigen Leben auftürmt. Und das ist nicht wenig, wirklich
nicht. Aber wenn ich hereinkomme, ist es, als würde ich nicht durch
eine Tür, sondern eine Schleuse treten, in der ich von allem
gereinigt werde, was meine Wahrnehmung vom Spiel ablenken könnte.
Draußen bin ich eine von heftigem Liebeskummer und anderen
Widrigkeiten geradezu zerschmetterte, emotional instabile Chaotin.
Drinnen bin ich Regisseurin, und das ist alles. Ist es wirklich.
Ich
führe zum ersten Mal in meinem Leben Regie, und außer einem kurzen
Austausch über die Grundrichtung, die wir für das Stück wollen,
haben wir auch keine Vorarbeiten vor Probenbeginn geleistet. Alles
andere entsteht aus den Proben selbst. Und oft genug bedauern wir,
dass Ingo auf den Bus angewiesen ist und wir zeitnah aufhören
müssen. Es ist, als würden wir alle drei in einer separaten Zone
agieren, die kaum mit unserem Alltag verbunden ist. Das Vertrauen und
die Intensität werden immer stärker.
Ich
bin beeindruckt, wie gründlich sie ihre Texte für die anstehenden
Szenen gelernt haben, Hänger kommen nicht wirklich vor. Das ist
natürlich ein ungeheurer Luxus, den die Schauspieler mir gönnen,
aber ich Snob halte es für selbstverständlich. Ich selber habe das
Gefühl, dass aus meinem Solarplexus Kabel wachsen, durch die ich mit
ihnen verbunden bin und durch die viel mehr an Information läuft,
als ich mündlich vermitteln könnte. Informationen laufen auch durch
mich hindurch, ich sehe alles, jede Bewegung, jede Geste schon im
Werden, höre alles, fühle alles, und nutze jede Anregung, um die
Inszenierung zu intensivieren. Wenn Gras mitspielen würde, würde
ich es wachsen hören.
Ingo
raucht Pfeife und hat für die Pause sein gesamtes
Pfeifenstopfequipment mitgebracht, das er um sich herum deponiert.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sorgfältig und liebevoll Ingo mit
seinen Accessoires umgeht, sich damit ein kleines Zuhause auf der
Bank in der Raucherecke einrichtet. Ich bitte ihn, das genau so auch
als Peter auf der Bühnenbank zu tun. Jerry wird immer wieder und von
allen Seiten dieses Zubehör greifen, befingern, hochnehmen und
abstellen, und Peter – und die Zuschauer- damit zu Recht nervös
machen. Das Unausgesprochene wird deutlicher: Peter hat ein
„Zuhause“, Jerry nicht. Peter hat ein Territorium, Jerry ist
verloren. Und sehnsüchtig. Und neidisch.
Gerade
dadurch, dass Jerry nicht brüllt, keinerlei physische Kraft
ausstrahlt, nicht offensiv bedrohlich, sondern nur eigenartig
durcheinander erscheint, werden Peters Schwierigkeiten mit ihm, wird
seine irritierte Höflichkeit glaubwürdig. Er hat eigentlich keinen
konkreten Grund, wirklich Angst zu haben, und doch fühlt er sich
schon dadurch von diesem Eindringling bedroht, weil der immer wieder
scheinbar ziellos in Peters Revier eindringt und dessen
Habseligkeiten berührt.
Wir
werden großzügiger mit unserer Zeit, weil es so gut läuft und die
Schauspieler ihren Text so gut beherrschen, dass wir uns darum nicht
mehr kümmern müssen. Den einen oder anderen Probentag verbringen
wir in der Eisdiele, entspannen miteinander, reden und blödeln und
spüren, dass auch das uns weiterbringt und bereichert, noch
transparenter macht füreinander. Insidergags und kleine Rituale
entstehen, ein eigener Code. Wir sind ein Team, ein kleines Rudel,
fühlen uns wohl miteinander. „Wir werden das Maschinenzeitalter
nicht überleben!“ oder „Geh kotzen, Putzi!“. Oder „Spiel
nochmal die Kartoffel!“ Mein Highlight: wenn Peter täuschend echt
eine Ackerfrucht mimt. Kein Außenstehender würde unsere Albereien
begreifen; sie markieren unsere eigene Welt.
Zurück
auf die Bühne, Jerrys Monologe inszenieren. Jörg ist keiner, der
laut wird, auch sein Jerry wird es nicht sein, aber das heißt, dass
wir alle Passagen, die im Text als „gebrüllt“ stehen, blödsinnig
viele, Herr Albee, auf eine andere Art liefern müssen. Nein, nicht
müssen – wollen. Unser Jerry besitzt nicht die Kraft, sich über
die Lautstärke Gehör zu verschaffen, aber er will gehört werden.
Wenigstens das. Und
das soll er auch.
Ich
habe eine Idee, die selbst mir ein bisschen obskur erscheint, doch mein Instinkt weiß,
dass sie funktionieren wird. „Komm` an die Rampe!“, locke ich
Jerry. Und bitte ihn, sich ein leuchtendes weißes Quadrat
vorzustellen, direkt in der Luft, gut einen Meter über den Köpfen des Publikums. Zu
diesem soll er sprechen, und nur dann, wenn er es wirklich vor sich
sieht, und er soll sofort aufhören, wenn er das Bild „verliert“.
Er hat dafür alle Zeit der Welt, und wenn er das Quadrat nicht mehr
sieht, soll er so lange eine Sprechpause machen, bis er es sich wieder vor
Augen geholt hat. „Sprich nur
zu diesem Quadrat, als wäre es das einzige Wesen, das dir überhaupt zuhört!“
Der
Effekt ist herzzerreißend. Jerry wirkt konzentriert und
gottverlassen, verstörend und mitleiderregend zugleich. Seine
existenzielle Einsamkeit schwebt über den Köpfen, er erscheint schon nicht
mehr erreichbar; sein Bedürfnis, gehört zu werden, gilt nicht
wirklich Jerry oder dem Publikum oder Gott oder irgendetwas, das
definiert werden könnte. Es hat keine Richtung und meint doch alle.
Man weiß nicht, ob das, was er erzählt, wahr ist, real, aber man
fühlt, dass er es erzählen muss. Später wird das Publikum gebannt
zuhören, während Jörg immer mal stockt, bis das weiße Quadrat
wieder vor seinen Augen steht... und die Zuschauer stocken mit.
Ich
bin fasziniert, wie fantastisch dieser Trick funktioniert. Nur durch
dieses weiße Quadrat kann Jörg beruhigt alles andere ausblenden und
einfach den Text „ablesen“, was Jerry eine irisierende, entrückte Aura verleiht und zugleich diese Figur lesbar macht. Und
auf eine schmerzliche Weise sympathisch. So sehr sich das Publikum
zugleich mit Peter in dessen Komfortzone gestört, irritiert,genervt
fühlte, so sehr wächst nun das etwas rat- und hilflose Mitgefühl
mit Jerry.
An
einem späten Punkt im Monolog möchte ich Bewegung für Jerry haben,
ein Zurückkehren in den Körper, nachdem er sich schon fast über
die Köpfe hinweg in seine Gedanken aufgelöst hat. Wir haben zwei
Säulen an den Bühnenrändern, eigentlich Wandstücke, hinter denen
die Paraventstruktur verschwindet, die man zu einer Art solidem
Vorhang aufschieben kann. Im Alltagsbetrieb wird so aus der Bühne
ein schlichter Klassenraum. Jörg kann das nächstliegende Wandstück
von seiner Position an der Rampe gut erreichen, und ich bitte ihn,
dorthin zu gehen – und sich erschöpft an der Wand ein Stück nach
unten gleiten zu lassen. So wie man es tut, wenn man einfach nicht
mehr kann, wenn man nur ausruhen möchte... Er speichert es im Kopf
und bekommt die Drehung nicht hin, er überlegt zu sehr, statt
einfach die Erschöpfung zuzulassen. Wir üben immer wieder, doch
immer wieder mit dem gleichen Ergebnis. Es sieht extrem nach
Tanzstunde und Schrittzählen aus und steht in krassem Kontrast zu
der fließenden, sich auflösenden Weise, in der er an der Rampe
agierte. Und Jörg verliert seinen Jerry dadurch, das darf nicht
passieren.
Ich
brauche eine Zigarettenpause und nehme ihn mit in die Raucherecke. In
der stehen Säulen, die das Vordach tragen, schon immer stehen sie
da, aber jetzt kommen sie wie gerufen. Ich zünde mir eine Zigarette
an und rede über völlig andere Dinge, die gar nichts mit dem Stück zu tun haben, während ich von Säule zu
Säule wandere und mich jedes Mal kurz drehe, anlehne, mich ein
kleines Stück hinunterrutschen lasse. Mich wieder hochziehe und zur
nächsten pilgere. Rutsche. Mich wieder hochziehe. Als die Zigarette durch ist, probieren
wir noch einmal auf der Bühne - und Jörg kann es. Problemlos und
ohne auch nur einen Schritt überlegen zu müssen. Es sitzt.
„Kultivier´ das!“, sage ich, wie ich es immer sage, wenn wir das
bestmögliche Moment gefunden haben, wenn wir uns wieder ein
Puzzleteil erarbeitet haben, das exakt in unsere ureigenste
Zoogeschichte passt. Und ich weiß, sie tun es, ich kann mich darauf
verlassen, dass sie es genau so abspeichern und wiedergeben können;
wir verankern das Stück in unseren Körpern und speichern es in der
Intuition. Wir alle drei. Spüren, wie das Stück wächst, wie es
immer mehr unseres ist.
Die
Aufführung rückt näher, und wir bekommen Techniker und einen
Impresario, der die Pressearbeit übernehmen wird. Plötzlich sind
wir nicht mehr allein auf der Bühne. Ich sitze im Zuschauerraum und
bestaune die emsigen Aktivitäten rund um unsere Bank; das Ende der
Intimität, aber der Anfang der Präsentation. Mehr um zu testen, was
passieren wird, als aus Notwendigkeit sage ich mitten im Ablauf
halblaut „Halt!“ - und alles, was sich auf der Bühne betätigt,
hält inne und schaut mich an, wartet auf Weisung. Ich habe den
dringenden Impuls, zu den Toiletten zu rennen und nachzusehen, ob mir
vielleicht ein kleiner schwarzer Bart wächst? Dieser Flash von Macht
gefällt mir, zu sehr für mein eigenes Selbstbild. Wird man so
Diktator? Die Arbeit holt etwas aus mir heraus, von dem ich noch
nicht weiß, ob ich es unter „Wow, das will ich mein Leben lang
tun!“ oder „Oh mein Gott, was macht das aus mir?“ verbuchen
soll.
Dass
es auch gute Macht gibt, werde ich erst viel später lernen. Als
Mutter. Noch habe ich dafür kein Konzept.
Vor
einer der nächsten Proben sitze ich an einem der Tische in der
Pausenhalle und schaue Unterlagen durch, als Jörg zu mir kommt.
Etwas verlegen weist er mich darauf hin, dass er noch ein Messer aus
der Requisite braucht. „Aus der Requisite“ sagt er tatsächlich;
ich habe bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass wir eine haben.
Wahrscheinlich meint er die der Theater-AG. Aber ob die ein Messer
enthält? Und was ist das für ein Gefühl, ein Messer aus der
Requisite in der Hand zu halten? Nicht das richtige, beschließe ich,
und setze meinen Regisseurinnenblick auf. Jörg lauscht
erwartungsvoll.
„Wir
machen das anders“, sage ich, zum zigsten Mal wohl während dieser
Proben. „DU gehst heute nachmittag zu Boehnke“ - der einzige
Waffenladen im Ort - „und kaufst dir DEIN Messer.“ Wir sind so
vertraut miteinander, dass er sofort weiß, was ich mit „DEIN
Messer“ meine. Und dass ich weiß, er wird es auch so machen.
Natürlich
habe ich es bis zur nächsten Probe vergessen, weil mich ja gleich
hinter dem Ausgang wieder meine Identität als leidende Liebende
anfällt - aber es fällt mir wieder ein, als nicht Jörg, sondern
Jerry auf mich zukommt. Jerry an einem guten Tag. Jerry, der ganz
selbstverständlich ein Messer in der Tasche hat und niemals eins aus
der Requisite bräuchte. „Rate mal, was ich habe“, grinst er mich
an. Ich lache und sage „zeig´ mal!“, und für einen Moment sind
wir zwei verschwörerische halbkriminelle Straßenkinder. Er greift
in die Tasche und lässt das Messer aufschnappen, dann zeigt er mir
den Mechanismus. Es ist Jerry. Jörg, der Denker, der Pazifist, der
niemals eine Waffe anfassen würde, ist weit weit weg. Wenn es ihn
überhaupt gerade noch gibt.
Ja,
wir haben ein echtes Messer auf der Bühne, und ab diesem Moment
kenne ich auch den Unterschied zwischen einem Requisit und – einem echten Gebrauchsgegenstand. Das Wissen sinkt, wie so vieles während dieser Arbeit, tief in meinen eigenen Erfahrungsfundus. Nicht fürs Theater, sondern fürs Leben lernen wir.
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