Der alte Jude

Der alte Jude


Es geschah, als ich wieder enmal bei Marek war, meinem damaligen Gefährten. Kurz zuvor hatte ich ihn dazu gebracht, mit meiner tätigen Hilfe seine verwarzte Junggesellenbude (Marke: bin den ganzen Tag auf Arbeit) mal endlich klarschiff zu kriegen. Fünf große blaue Mülltüten hatten wir gefüllt, und nachdem so wieder Luft im Raum war, hatte Marek den Schwung bekommen, seinem Wohn-/Schlafzimmer den letzten Schliff zu geben, und mich zur Begutachtung eingeladen.


Marek und ich hatten uns auf etwas obskure Weise kennengelernt, und zwar in meinem Lieblings-Esoterikbuchladen im Stellinger Weg. Ich wohnte damals mit meinen Söhnen in der Lutterothstraße, und der Eso-Buchladen war meine kleine Auftankstation zwischen Osterstraße und zuhause, zwischen Einkaufs- und Mutter-Management-Stress. Eine Oase der Ruhe, des Friedens und der Bücher-Neuerscheinungen und – manchmal – ein magischer Ort.


Den schlanken gutaussehenden jungen Mann, der an einem Spätnachmittag im Januar – es war draußen schon dunkel – am Tisch mit den Neuerscheinungen stand und in Sun Tzus „Kunst des Krieges“ vertieft war, hatte ich nur beiläufig wahrgenommen. Und so wäre es auch geblieben, hätte ich nicht plötzlich eine Art festen Tritt in den Hintern verspürt. Der kam offenkundig aus dem Regal mit den Hexenbüchern am Eingang, dem ich den Rücken zugekehrt hatte, um in den Raum zu schauen, denn sonst stand nichts und niemand hinter mir, der oder das für den Tritt hätte verantwortlich sein können. Ich wunderte mich nicht; ich hatte schon Seltsameres erlebt.


Es schien eine Art Befehl zu sein, jedenfalls trat oder besser: sprang ich unwillkürlich einen Schritt vor. Was den jungen Mann dazu brachte, von seinem Buch auf- und mich anzuschauen, und um nicht zu blöd dazustehen, fragte ich ihn, was er da lese und warum.


Daraus hatte sich ein Gespräch entsponnen, das wir auf dem Heimweg (wir wohnten nicht weit voneinander entfernt, wie sich herausstellte) fortsetzten, und ein paar Tage später waren wir zusammen. Eher Gefährten mit gemeinsamen Interessen als romantisches Liebespaar, aber der Tritt aus dem Hexenregal, mit dem alles anfing, war mir wie ein Auftrag erschienen, und solche Aufträge nahm ich immer ernst.


Und nun stand ich staunend in seinem vorherigen Chaosquartier und war beeindruckt, wie wohnlich und gemütlich es jetzt war. Und in der Stimmung, das frischbezogene Bett auszuprobieren… Marek aber nicht. „Lass uns einfach sitzen und reden“, sagte er, und ich seufzte im Stillen, setzte mich aber brav auf einen der beiden Korbsessel vor dem Bett.

Marek setzte sich auf den zweiten gleich daneben und berichtete mir besorgt, dass er beim Arzt gewesen war. Und dass der festgestellt hatte, dass Mareks Herz permanent viel zu schnell schlug. Und dass die Ursache dafür ermittelt werden sollte, weil es sonst ernsthafte Probleme geben könnte. Seine Besorgnis war greifbar, ich nahm sie zur Kenntnis und verkniff mir beschwichtigende Worte.


Während ich ihm noch zuhörte, verwandelte sich plötzlich die Realität - und ich, das heißt: mein Bewusstsein, befand mich in einem völlig anderen Raum. Einem altertümlichen, kargen Raum mit Wänden aus rohen Steinen, grob gemauert und nur von einem kleinen blinden Fenster ansatzweise erhellt, halbrund und außen mit dem Boden abschließend, von draußen kaum zu sehen. Ich sah alles zugleich, auch die eigenartigen selbstgebauten „Maschinen“ aus metallenen Streben und alten Zahnrädern, den grobgezimmerten Tisch, der mit alten, teils rostigen, metallenen Teilen überhäuft war, und das Pult aus angerottetem rohem Holz ganz hinten im kleinen Raum, auf dem ein einziges dickes Buch aufgeschlagen lag, dessen pergamentene Seiten schon zu zerfallen drohten. Ich sah die kleine tönerne Schüssel auf dem Sims aus Mauersteinen vor dem blinden Fenster. Ich roch die Schwere der abgestandenen Luft im Raum und ihre intensiven Aromen von Alter, Angsschweiß, feuchtem Stein, Metall und modrigem Holz. Und ich sah den uralten Mann mit seinem langen verfilzten Bart in seinem zerschlissenen, zerfallenden alten Kaftan vor mir, der, von allen vergessen außer von dem Mädchen, das ihm ab und zu eine Schüssel mit Essen brachte, hier hauste und sich nicht hinaustraute, voller Angst, besessen von seinen Manien, seinen Forschungen, seinen Basteleien und Erfindungen.


Und ich wusste, dass ich selbst - die hier in diesem Raum mit dem alten Mann war und die den Raum, in dem ihr fleischlicher Körper sich befand, völlig vergessen hatte – allein aus Licht bestand, aus fließendem, strahlendem weißem Licht. Und dass ich einen Auftrag hatte. Das Bewusstsein des Alten war mir aufgeschlossen, ganz, weit mehr, als ich in diesem Selbst, in dem ich schreibe, berichten könnte. Und ich sah, was er sah, wie er mich in diesem Raum sah: einen Engel wie aus dem Alten Testament.


Er weinte, Tränen rannen aus seinem zerknitterten Gesicht in den schmutzstarrenden langen Bart. Und er streckte mir seine zitternden Greisenhände entgegen, zaghaft, ehrfürchtig und flehend. Und mit einem fließenden Gedanken formte ich Hände aus Licht aus dem Licht, das ich war, und nahm damit die seinen, hielt sie. „Es ist genug“, sagte ich im Geist zu seinem Geist, mit der bedingungslosen Liebe des Lichts und dessen unendlichem Mitgefühl.


Der tiefe erlöste schluchzende Seufzer, mit dem der Alte starb, kam zugleich hörbar aus Marek, der in dieser Welt neben mir saß, und das holte mich auf der Stelle in sie – und in mich, wie ich mich kannte - zurück. Ich schaute ihm ins Gesicht, sah den Ausdruck tiefster verwirrter Verwunderung in seinen Augen und hörte ihn sagen – nein: ausstoßen! - „Oh Gott, ich glaube, ich bin eben gestorben!“

Ich nahm es zur Kenntnis, und dann sprachen wir von anderen Dingen.

Nach seinem nächsten Arzttermin ein paar Wochen später berichtete mir Marek vom tiefen Erstaunen des Arztes, dass sein, Mareks, Herzschlag völlig im normalen Bereich sei. Uns wunderte das weit weniger als den Arzt.






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