Nachtodbesuche 3: Der Abschied vom Bruder

Ein Sonntag im September 2001.

Um halb neun Uhr morgens klingelt das Telefon. Verdammt, ich hatte doch ausschlafen wollen! Meine gerade zwölf gewordenen Zwillingssöhne sind bei den Großeltern - meinen Eltern - und den Onkeln, meinen jüngeren Brüdern, übers Wochenende zu Besuch „auf dem Lande“, an die siebzig Kilometer weit weg. Erst ein Jahr zuvor sind meine Jungs und ich Alleinerziehende von Hamburg nach Lüneburg gezogen. Das Jahr nach dem Umzug war unfassbar anstrengend, und dies ist mein allererstes freies Wochenende.

Ich seufze laut, stehe auf und nehme den Anruf entgegen, bereit, jeden zur Schnecke zu machen, der mich um diese Uhrzeit an einem Sonntag aus dem Bett klingelt.


Aber dann höre ich die Stimme meines jüngeren Bruders – des jüngeren meiner zwei jüngeren Brüder, genauer gesagt. Und diese Stimme sagt: „Matthe ist tot.“ Matthe, Kurzform für Matthias, ist der ältere jüngere Bruder, zwei Jahre jünger als ich. Plötzlicher Herztod. Er war frühmorgens auf dem Weg zur Toilette einfach umgefallen, so schnell gestorben, das er noch nicht einmal Zeit für eine instinktive Abwehrreaktion gegen den Fall gehabt hatte.


Es gibt so Sätze, bei denen das Gehirn die Annahme verweigert. Die irgendwie in der Mitte zwischen Hören und Begreifen stehenbleiben, ein bisschen so wie sehr ungebetener Besuch, bei dem man erst einmal die Tür wieder zu– oder zumindest dreiviertel zu– macht und dann vorsichtig schaut, ob der immer noch da ist. Dieser ist eindeutig so einer. Und ich weiß später absolut nicht mehr, was wir noch gesprochen haben, oder ob überhaupt; nach dem Satz wird alles, die ganze Welt, völlig surreal. Das Einzige, was mich aus dem Surrealen - zumindest zum Teil - wieder herausholt und handlungsfähig macht, ist der Gedanke an meine Söhne. Der Mutterinstinkt ist es, der mich in Bewegung setzt. Das ist alles, was ich klar begreife: ich muss zu meinen Kindern. Und deshalb ist auch das Einzige, was ich am Telefon zu meinem jüngeren Bruder sage, „ich komme!“


Zum Glück ist meine liebe junge Flurnachbarin ausnahmsweise zuhause und fährt mich auch sofort nach S., wo mein Elternhaus steht, wo meine Eltern leben und Matthe gerade für sich und seine Freundin, seine große Liebe, das Obergeschoss ausgebaut hatte. Auch Florian, der mich angerufen hatte, wohnt in S., nicht im Haus, aber auch nicht weit weg. Gottseidank, in diesem Fall.


Wir fahren Landstraße, nicht Autobahn, und die ganze Zeit schaue ich aus dem Fenster auf die vorbeijagenden Wälder, Dörfer, wieder Wälder, und die ganze Zeit steht der Satz in meinem Ohr, dem mein Hirn weiterhin den Einlass verweigert.


Auf der altvertrauten Einfahrt zum Carport lässt meine Nachbarin mich aussteigen und fährt zurück. Ich gehe erst einmal nicht zur Haustür, sondern daran vorbei in den Carport, von dem aus man in den Garten hinter dem Haus schauen kann, der jetzt fast nur noch aus Rasen besteht. Ich habe das dringende Bedürfnis, erst einmal tief durchzuatmen, ja überhaupt erst einmal anzukommen, bevor ich mich dem stelle, was immer noch völlig surreal für mich ist.


Als ich so dastehe, im Carport, und über den Rasen schaue, über die Holztreppe in den oberen Stock, die mein Vater und mein Bruder gemeinsam gebaut haben - spüre ich plötzlich eine enorm starke Präsenz. Nicht sichtbar, aber ganz und gar fühlbar hoch über dem Rasen am Himmel schwebend, ausgebreitet wie eine riesige Wolke und angefüllt mit einer unendlichen, unbeschreiblichen Freude. Ekstase. Glückseligkeit. Und sie trägt die Signatur meines Bruders, unverkennbar. Und so unfassbar viel mehr, als ich je von ihm in seiner physischen Form wahrgenommen habe. Nicht die Form, sondern die Essenz seines gesamten Wesens, strahlend und frei.


Im selben Moment, in dem ich ihn wahrnehme, bemerkt er mich auch und streckt sich zu mir aus. Die unsichtbare Wolke umfängt mich und verschmilzt mit mir. Es ist wie wenn sich zwei feine Seelen-Sprühregen zu einer Sprühregenwolke vermischen und zu einer Einheit werden, in der alles, alles geteilt wird. Geteilt und erkannt, so innig und liebevoll, wie wir es in diesem physischen Leben nie, nicht einmal ansatzweise, gewesen waren. Keine Distanz, keine Animositäten, keine Missverständnisse, keine Vorbehalte – ganz im Gegenteil: Ich fühle mich durch und durch erkannt und zutiefst verbunden, und zugleich erkenne ich ihn, ganzheitlich - seine Essenz, seine Seele. Die so viel mehr ist als ein physisches Außen je ahnen lässt, und so unfassbar glückselig und frei - und doch noch einen Schmerz sich trägt: seine geliebte Gefährtin, die er hatte heiraten wollen, so plötzlich verlassen haben zu müssen. Und in dieser innigsten Verbindung mit meinem inneresten Wesen beauftragt er mich, mich um sie zu kümmern, und gibt mir einen Teil seiner Liebe zu ihr direkt in mein Herz.


Ich hatte Diana zuvor überhaupt nur einmal gesehen, und auch da nur ganz kurz, gerade genug zum „Hallo“ sagen. Mit dem Auftrag meines Bruders aber wird sie auf einmal wichtiger als meine völlig geschockten und am Boden zerstörten Eltern, wichtiger als meine verwirrten und tieftraurigen Söhne. Zu ihnen gehe ich und umarme sie innig, aber dann steige ich die Holztreppe hoch und klingle an Dianas Tür.


Viel später wird sie mir sagen, dass sie sofort gespürt hat, dass etwas von Matthe in mir war. An diesem Tag öffnet sie mir und ist gar nicht erstaunt, dass ich es bin. Wir sind auf der Stelle enge Freundinnen. Ich schlafe oben bei ihr im Gästezimmer, und wir reden ganze Nächte hindurch, mit einer Vertrautheit und einem Vertrauen, als kennten wir uns schon ewig.


Unten bei meinen Eltern sammeln sich Matthes Freunde um meine Eltern. Es tut ihnen gut, nicht allein zu sein, auch meine Söhne spüren das und sind mit dabei. Ich schaue immer wieder hinein, aber mein Platz ist eindeutig oben, bei Diana. In mir schwingt immer noch ein Nachhall dieses unfassbaren Glücksgefühls, das mir von meinem Bruder geschenkt wurde und durch das ich mich inniger mit ihm verbunden fühle als je im physischen Leben. Am liebsten würde ich ihnen allen davon erzählen, das mit ihnen teilen… und doch weiß ich, dass dafür nicht die Zeit, nicht der Raum ist. Sie haben alles Recht der Welt, um diesen Verlust zu trauern, der in ihrer Welt völlig wahr, konkret, niederschmetternd und unwiderruflich ist. Und sie würden gar nicht verstehen, was ich ihnen zu sagen versuche. Aber das ist auch gar nicht meine Aufgabe, und das ist auch gut so.


Tage vor der Beerdigung müssen meine Söhne und ich noch einmal nach Lüneburg. Mein Vater schlägt vor, ich solle doch Matthes Auto nehmen, das verwaist in der Einfahrt steht. Kaum dass wir von dieser herunter und auf die Hauptstraße eingebogen sind, werfe ich einen Blick auf die Tankanzeige – der Tank ist fast leer. Ich bin ewig nicht mehr Auto gefahren, und als ich auf die Einfahrt der nächstbesten Tankstelle einbiege, fällt mir mit leisem Schrecken ein, dass ich nicht geschaut habe, auf welcher Seite die Tanköffnung ist… Plötzlich an meinem Ohr, quasi zwischen Ohr und Luft, die Stimme meines Bruders, unverkennbar und zwischen amüsiert und genervt (ich höre das Augenrollen gleich mit): „Der Tank ist rechts!“ - „Danke!“ sage ich unwillkürlich laut und fahre die Zapfsäule entsprechend an.

Den Weg zurück nach Lüneburg fahre ich furchtbar chaotisch. Aber wir drei Insassen spüren, dass Matthe auf uns aufpasst, und haben keinen Zweifel, dass wir gut und sicher ankommen. Und das tun wir auch.


Einen Tag später, in unserer Wohnung in Lüneburg, stehe ich unter der Dusche und denke nach. Ich will meinem Bruder auch einen Abschiedsgruß ans Grab legen, von den Jungs und mir ganz persönlich. Aber was soll auf der Schleife stehen? Plötzlich hallt die Antwort in meinem Kopf, als würde sie mir mein Bruder, der beinharte Fan der originalen Star Trek-Crew, direkt hineinbrüllen: „Scotty, beam him up!“ Aye aye, Sir, genau das wird es, und die Frau im Grabschmuckladen wundert sich ein bisschen, aber ich weiß, dass das so muss.

Bei der Beerdigung begleite ich meine Mutter und gehe mit ihr in die Kapelle, wo der Leichnam meines Bruders im offenen Sarg aufgebahrt ist. Er trägt keinen Anzug, sondern seine robuste Allwetter-Lieblingsjacke, und sieht aus, als würde er schlafen. Ich fasse ihn an, um zu spüren, dass der Körper tatsächlich kalt und starr ist, dass er nicht gleich die Augen aufschlägt und mich fragt, was zum Teufel ich hier mache.

Es herrscht ein wunderbarer Frieden im Raum, so greifbar und umfassend, dass ich gerne dableiben und mich bedenkenlos zum Schlafen auf eine der Bänke an den Seiten legen würde. Ein Nicht-von-dieser-Welt-Frieden.


Am Grab verabschiede ich meinen Bruder mit dem Vulkaniergruß. Und ich halte es nicht für Zufall, dass am Tag danach tatsächlich eine große Wolke über den Garten schwebt, die unverkennbar die Form der ersten Enterprise hat – mit dem „Teller“ vorne und zwei dicken langen düsenartigen Wolkenröhren. Die Botschaft an Scotty ist wohl angekommen. Ich erzähle niemandem davon außer meinen Söhnen, aber wir freuen uns darüber.


T


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