Im Seitenflügel: kleinere Prosa, immer ein Stück pro Post. Hier: "Hörner"
HÖRNER (1998)
Am
Morgen des sechsundzwanzigsten Juli wurde Elke P.durch ein Jucken
geweckt. Subtil und beharrlich durchdrang es den kuscheligen
Alphawellenzustand ihres Dösens, ließ sich auch von ihren
halbbewusst tastenden Fingern nicht beruhigen. Elke P., den noch
trägen Körper verärgert auf die Seite rollend, öffnete die Augen.
Schloss sie noch einmal. Zwecklos.
Das
Jucken, nun verstärkt durch ihre sinnliche Aufmerksamkeit,
konzentrierte sich auf einen etwa pfenniggroßen Bezirk an der linken
Stirnseite, oberhalb der Schläfe. Nicht das nervenzersetzende, irre
Kribbeln eines Mückenstichs – viel eher die prickelnde,
aufquellende Spannung eines Herpesbläschens. Auf der Stirn? Gereizt
brach Elke P.den Ruhezustand ab, schälte sich aus der leibwarmen
Haut der Bettdecke und strebte fröstelnd ins Bad. Stellte sich vor
den Spiegel und strich, forschende Augen auf das Abbild der
Stirnseite gerichtet, ihr Haar zurück.
Ein
kreisrunder Fleck, exakt gezeichnet, hob sich in noch unauffällig
dunklem Rosé von der morgenblassen Haut ab; pfenniggroß. Das Jucken
schwoll an, summte im Schädel wie ein panisches Insekt. Mit zwei
Fingern berieb Elke P.das Mal, zart, beschwichtigend zunächst, dann
heftiger, fast inquisitorisch. Etwas liege darunter, meldete ihr
Tastsinn, etwas Winziges, Spitziges, Knochiges... keine Laune der
Epidermis, sondern die äußere Verkündigung eines fragwürdigen
inneren Prozesses. Aus Elke P.s nüchternem Magen stieg ein feiner
Nebel von Übelkeit, verteilte sich und verschwand.
„Machsduuunnda?“
Günter P.s belegte Morgenstimme, weich und undeutlich wie eine
unsauber gespielte Oboe, durchzog schlurfend das Bad. „Ich hätte
die Tür abschließen sollen.“ verriet Elke P. unhörbar ihrem
Spiegelbild. „Ich massiere meine Hörner!“ verriet sie ihrem
Mann. Wandte sich nicht zu ihm um, der wahrscheinlich glauben würde,
sie hätte einen Scherz versucht, sondern griff, zwei Finger, in den
offenen Topf mit Feuchtigkeitscreme. Bestrich, beschwörend
methodisch, die summende Stelle. Brummend verschwand die Gestalt
Günter P.s aus dem Türrahmen, schleppte einen Hauch von
Schlafgeruch und altem Deodorant nach, dessen Ausläufer an Elke P.s
Nase rührten. Sie registrierte die neue Schärfe ihres Geruchssinns
eher beiläufig.
Wortmagie:
„Hörner, Hörner, Hörner“ sang es in ihrem Kopf. Der Text zum
Juckreiz. Die monotone Musik des Juckens spielte an der Untergrenze
ihres Bewusstseins, hintergründig und entnervend wie eine Uhr, die
man ticken hört, aber nicht finden kann. „Muss am Stress
liegen...“ - Elke P. rettete sich in sorgfältig ausgeführte
tägliche Routine: Zähneputzen, Waschen, Anziehen. Das Dehnen der
Nylonstrümpfe mit Hilfe der in den schrumpeligen Schlauch
eingeführten Hand, Finger am Schlauchende gespreizt und vorsichtig
wieder herausgezogen; einsteigen in den kurzen Tunnel eines
Leinenrocks, Bauchmuskeln anziehen, Knopf schließen, Reißverschluss
hochziehen, ein scharfes Zirpen; das nahtgerechte Einrenken des
Kleidungsstücks; unterfassen, den Blusensaum glattziehen, dass sich
ja nichts beult, nichts abzeichnet...
Die
zurückeroberte Sicherheit brach zusammen, als Elke P. den Kaffee
brühte. Ein enormer Schwall, eine Flutwelle von Kaffeegeruch schlug
über ihr zusammen, riss ihr mühsam eingesammeltes Tagbewusstsein in
einen brodelnden braunen Strudel, ließ sie, überwältigt und
hilflos, auf den Küchenstuhl sinken. „Ich sollte mich krank
melden“ , schrillte ihr Hirn, fast zugleich mit „Das glaubt mir
keiner!“ und „Schwanger? Kann nicht sein!!“ Die pharmazeutische
Hormonblockade war intakt geblieben, der künstliche Zirkel nicht
unterbrochen worden, darin konnte sie sich auf sich verlassen. Und,
stärker noch, auf den Mangel an Gelegenheit. Trotzdem... irritiert
fischte sie nach Resten ihrer sonst so soliden Sicherheit, doch sie
schien nur noch Pulveriges zu erwischen. Puder, Staub, Asche.
Während
des Frühstücks (das Brot tat gut, aber – oh Hölle! - die alles
überdeckende Zuckrigkeit der Konfitüre! Aufschnitt erwies sich
ebenfalls als schlechte Lösung, sie meinte, jeden Zusatz- und
Konservierungsstoff einzeln schmecken zu müssen, ganz zu schweigen
von dem Cocktail an Medikamenten, in dem die Fleischreste zu
schwimmen schienen) blieb sie einsilbig, verdrossen, in sich gekehrt.
Als Geste der Entschuldigung brachte sie ihren Mann zu seinem Wagen,
stand mit verschränkten Armen und gereizter Miene auf dem Rasenstück
neben der Einfahrt (und schien durch einen bisher verborgenen Sinn
das Gras durch die Sohlen ihrer Hausschuhe wachsen zu spüren).
Günter P., friedlich, kompetent und in sich ruhend, schloss
geschäftig den Wagen auf, barg die Tasche auf dem Beifahrersitz,
stieg ein, überprüfte Rück- und Seitenspiegel (was unnötig war,
da nie jemand außer ihm mit seinem Wagen fuhr; Elke P. besaß ihren
eigenen), legte den Gurt an und rollte vorsichtig rückwärts die
Einfahrt hinunter, wachsam und nach allen Seiten sichernd. In einem
sanften Viertelkreis glitt der Wagen auf die Straße. Günter P.
begegnete dem abwesenden Blick seiner Frau mit einem unangemessenen
Winken, bevor er den Gang einlegte und langsam, dann schneller
werdend, außer Sicht rollte.
Elke
P.,deren geschärfte Sinne sich allmählich einpendelten, kehrte ins
Haus zurück. Schlüpfte in einen leichten Leinenblazer (die
Schulterpolster schienen sich gegen ein Zurechtrücken zu sträuben),
streifte die Hausschuhe ab, stieg in halbhohe Pumps (ihre Füße
bedauerten den Verlust des Bodenkontakts mit leichten Krämpfen),
griff nach Handtasche und Schlüsseln. Stellte bei einem letzten
Blick in den Spiegel mit unterschwelligem Entsetzen fest, dass sich
an der rechten Stirnseite, als exaktes Pendant, ein zweiter Fleck
gebildet hatte. Er begann bereits zu jucken. Sie war spät dran, so
entging ihr die kleine Veränderung im linken Kreis: die Haut am
Mittelpunkt war etwas schrundig geworden, löste sich in
unauffälligen Schuppen, unter deren losem Zusammenhalt es weiß
schimmerte, eine neckische kleine Spitze, wie ein neugeborener Zahn.
Eisern
auf Kontrolle bedacht, zwang sie sich und das manische Jucken, die
ausufernde Schärfe ihrer Wahrnehmung, die leisen, intim flüsternden
Befürchtungen zurück in die Pflicht. Floh aus dem undurchschaubaren
Chaos des wuchernden Stadtverkehrs (der, wie ihr der Verstand
versicherte, nicht schlimmer war als sonst) ins nestwarme Büro.
Kaffeegeruch, überdeutlich, bildete eine sensorische Mauer, löschte
die Reste der Benzin- und Abgasschwaden vom Parkplatz. Elke P.
versuchte, sich in der Geläufigkeit zurechtzufinden, warf einen
Morgengruß durch eine halboffene Tür, ein routiniertes Scherzwort
durch eine andere (und ignorierte dabei verbissen, dass ihre Kollegen
und Kolleginnen, namentlich und von Erscheinung zum Teil seit Jahren
bekannt, sich vor ihren Augen auflösten in knisternde Dschungel von
Fleisch und Haar, während das elektrische Zusammenspiel ihrer
Muskeln und Organe diktatorisch eingegrenzt wurde durch beschnittenen
Stoff, die feierlichen Rituale ihre Bewegungen wirkungslos an den
Wänden abprallten. Eine wilde Herde von Instinkt und Dynamik,
zufrieden im Pferch), gelangte in sanft fließenden Kurven an ihren
Schreibtisch, schlug Akten auf, warf den Computer an... und versank
in unverständlichen Chiffren. Sie begriff nicht mehr.
Frauen,
untereinander vertraut, bemerken im Fluss des Unterbewusstseins den
leisesten Bruch im Normalverhalten. Nur den männlichen Kollegen
blieb verborgen, wie oft Elke P. die Waschräume aufsuchte, wie
verstört sie sich den Weg zurück bahnte, wie allmählich das
routinierte Blättern, Tippen, Abheften in den Unterton sachter Panik
abglitt. Noch vor der Mittagspause hatten die Beschreibungen von Elke
P.s Zustand, die Mutmaßungen und eilfertigen Diagnosen, geflüstert
vorgetragen, auch die entlegensten weiblichen Arme der Firma
erreicht. In kleinen Herden, die sich beiläufig zu improvisierten
Kaffeepausen zusammengefunden hatten, dampfende Becher in den Händen,
eine wohlig kribbelnde Neugier hinter der großäugigen Sorge um Elke
P.s Wohlsein verschanzt, bewisperten sie jedes neue Detail.
Elke
P. erreichte von alledem nichts. Es scherte sie auch nicht. Sie hatte
ihre Tür geschlossen (ein Sakrileg in den Augen der Herde!),
schützte sich so vor den Wellen von Pulsschlag und Parfüm, den
Dünsten von Schuhcreme, Rasierwasser und trockener Haut, dem ganzen
vielschichtigen Gestank von Zivilisation. Sie rieb sich – und
presste dabei die Augen zu wie ein Kind, das sich versteckt – mit
zwanghaften Gesten die Seiten ihrer Stirn. Die Spitze war
durchgebrochen auf der linken, es schmerzte ein wenig, die überdehnte
Haut, aufgerissen, rollte sich schon zurück. Schnell, fast hastig,
schob das Horn sich vor. Sein Pendant wurde noch von einer letzten
dünnen, bläulich verfärbten Hautschicht bedeckt. Elke P. hatte im
Waschraum versucht, die wachsenden Spitzen unter Haarsträhnen zu
verbergen. Doch nun boykottierte sie diesen Versuch selbst, fuhr
sich, teils im Bann ihrer zersplitternden Wahrnehmung, teils aus dem
instinktiven Bedürfnis nach heilendem, linderndem Luftzug, immer
wieder über die Stirn, strich das Haar zurück, weg von den wunden
Spitzen, weg von den wachsenden Hörnern.
Die
hydrokultivierten Fensterbankpflanzen boten ihr Trost, lockten sie,
berstend lebendig, strotzend vor Saft. Neckische Triebe entsprossen
ihren Ästchen, wo Elke P. sie berührte, entrollten sich zu frischem
Grün. Einem Hängetopf entflossen Kaskaden von Grünlilien, dichte
Büschel zierlicher Schwerter, die sich, vor Erwartung vibrierend, um
einen gemeinsamen Mittelpunkt bogen. Aus einem manschettengarnierten
Topf quoll zügig und hemmungslos ein fleischiges Usambaraveilchen.
Zimmerwein streckte gierige Ranken aus.
„Etwas
nicht in Ordnung? OH GOTT!!“ Eine gepflegte, knospige Laura oder
Linda war von der Belegschaft gesandt worden, die provokant
geschlossene Tür zu entschärfen. Ihr Aufschrei bezog sich auf Elke
P., die mit gekreuzten Beinen in einem unbrauchbar gemachten Haufen
bedruckten Papiers hockte; ein Kaffeebecher war umgekippt, ein
Rinnsal von Milchkaffee leckte theatralisch über die
Schreibtischkante, tröpfelte auf Elke P.s Schulter und zeichnete die
dezent beigefarbene Bluse. Es blieb unbemerkt. Die Trägerin des
befleckten Textils saß, das Antlitz verzerrt von Extase und
Unglauben, im Schneidersitz, schwenkte sanft den Oberkörper in
unhörbarem Rhythmus und gurrte kehlig.
Hinter
der vorsichtig von zwei breitschultrigen Kollegen in den Ruheraum
geleiteten Elke P. schloss sich die Herde, aufgeregt wispernd („Hast
du gesehen?“ - „Man traut ja seinen Augen nicht!“ - „Ein
bisschen komisch war sie ja schon länger...!“ - „Das wär´ was
fürs Fernsehen!“ - „Ich setz´ mal noch ´nen Kaffee auf...“ -
„Was wird denn jetzt mit ihr?“ - „Der Doktor soll ja schon im
Haus sein!“ - „Und wir können bestimmt die ganze Scheiße wieder
wegräumen...“ - „Was hat denn der Chef gesagt?“). Sie teilte
sich nochmals, bildete eine Gasse für den Arzt, einen kleinen,
tüchtig wirkenden Kahlkopf, der im Laufschritt den Flur durchmaß
und dabei bereits in seinen Koffer griff.
„Na,
was ist denn mit uns passiert?“ Nachdrücklich schloss der Kahlkopf
die Tür hinter sich, bannte die sich draußen drängende Herde.
Jagte der in scharf pulsierender Entrückung bebenden Elke P.
fürsorglich etwas Beruhigendes in die Armbeuge. „Wegen dem da“ -
ein schnelles Kopfnicken auf die Hörner - „gehen Sie mal am besten
dieser Tage zu einem Spezialisten. Lässt sich bestimmt was machen.
Was meinen Sie, was wir heutzutage alles hinkriegen... Noch lange
kein Grund, die Nerven zu verlieren, aber wir sind ja alle ein
bisschen angespannt. Kein Wunder bei der Wirtschaftslage. Aber eine
so patente Frau wie Sie! Lassen Sie sich nach Haus fahren, ruhen Sie
sich ein bisschen aus. Ich schreibe Sie krank. Gut?“ Ein schnelles
Tasten nach dem Puls, ein Blick in Elke P.s sich langsam entspannende
Pupille... der Kahlkopf schien zuversichtlich, zog einen der
breitschultrigen Kollegen beiseite, instruierte leise, packte mit
raschem Griff den Koffer und wehte, ein burschikoses „Tschüss
denn“ hinterlassend, hinaus.
Blühend
und explosiv, dampfend vor Leben, die frisch aufgebrochene stürmische
Melodik ihres Inneren durch die ärztliche Fürsorge kaum berührt,
erhob sich Elke P., schritt, ihre sprachlosen Kollegen durch keine
Geste ihrer Wahrnehmung würdigend, zur Tür, deren Klinke noch vom
Zugriff des Kahlen schwitzte. Öffnete sie, wandelte, sich in den
Hüften wiegend, den Flur entlang, in dessen zahlreichen Türen sie
sich drängten, Lauras, Lindas, Melanies, Stefans, Kais... Teile
einer Herde, einer gezähmten, gebrochenen, kastrierten Herde; in
Elke P.s Blut tobte dagegen die Gewissheit der Befreiung. Sie pfiff.
Mit fast kokett gespitzten Lippen, die vor Freude feucht glänzenden
Augen blicklos auf den Weg gerichtet, pfiff sie ein monotones Lied,
den Fetzen, die Passage eines Liedes, als sei sie ihr eigener
Rattenfänger. Zu beiden Seiten ihrer freigestrichenen, durch die
pulsierende Erregung des Augenblicks leicht geröteten Stirn,
sichtbar mit Stolz getragen, wuchsen ihre Hörner dem Licht entgegen,
drängend und unwiderstehlich.
Elke
P., widerstandslos dahingetrieben von ihrer sinnlichen Erweckung,
ließ sich führen: vorbei an ihrem sorgsam in der Parkbucht
abgestellten Wagen, an dem nichtsdestotrotz bereits ein Strafzettel
hing. Sie durchstreifte den Wochenmarkt, beschnüffelte besinnungslos
vor Wollust die saftigen Auslagen, die durchdringende Süße der
Früchte, die säuerlichen Dunstwolken eingelegter Fische, den
animalischen Fettgestank der Wurstbuden, den moschusbetonten
Sprühnebel auf den muskulösen Armen der Obstverkäufer, die unter
ihren prallen Lasten männlich schnauften (Tomaten! Paprika! Sie
schälte die Haut von einer Zwiebel, sog daran, genoss die bissige
Würze, das war die Tränen allemal wert!)
Endlos
wanderte sie, endlos pfiff sie, ließ die Stadt zurück, balancierte
auf den Randstreifen der Landstraßen, ließ ihre Kleidung zurück
(Pumps und Nylonstrumpfhosen waren als erste gefallen, irgendwo
zwischen Büro und Wochenmarkt), pfiff, lauter, freier, sicherer,
lachte zuweilen ohne erkennbaren Grund, ignorierte die Gaffer, die
weniger wurden, je weiter sie hinausgelangte, ließ ihren Namen
zurück; ihre Papiere hatte sie bereits im Büro zurückgelassen.
Gelenkt von ihren Hörnern und, wie man annehmen darf, von einem für
andere unhörbaren Ruf verschwand sie, irgendwann, in einem großen,
als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Wald.
Monate
später fand ein Trupp Pfadfinderinnen ihre Armbanduhr, klein,
damenhaft und aus Golddoublé, umwuchert von einem Busch Moosröschen.
Ganz und gar nicht der Jahreszeit entsprechend.
Von
Elke P. fehlt weiterhin jede Spur.
Das erinnert mich an eine Geschichte, in der zwei Kinder, Bruder und Schwester, in einem Dschungel verschwinden, der anfangs nur auf der bunten Tapete dargestellt gewesen gewesen war. Damals hatte ich zum Schluss eine Gänsehaut. Und jetzt auch wieder.
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