Immer noch Mittelgang: der Zoogeschichte 3. und letzter Teil

Die letzten Proben. Wir choreografieren die Kampfszene. Jörg ist fast einen Kopf größer als Ingo, damit müssen wir umgehen, aber die Variante, die ich sie versuchen lasse, gefällt ihnen nicht. So weit zu meiner Diktatorenkarriere – sie sträuben sich, die Variante ist ebenso vom Tisch wie auch der eine oder andere Einfall, den ich noch einbringe. Es ist nicht schade drum. Die beiden wissen nun selbst, was ihre Rollen tun, und schließlich sind sie es, die sie spielen müssen. Ich räche mich dafür, indem ich behaupte, ich würde sogar noch in der Generalprobe wiederholen lassen, wenn mir etwas nicht gefallen sollte. Ob ihre entsetzten Blicke echt sind oder auch nur gespielt, weiß ich nicht. Will ich auch gar nicht wissen.

Auch die Musik für die Schlussszene haben sie selbst ausgesucht: Ein Part eines wunderschönen Stückes von Weather Report, „Can it be done“ heißt es. Der Schluss - Jerry hat Peter dazu gebracht, um die Bank zu kämpfen, und benutzt ihn gewissermaßen als Handlanger zum Suizid. Ersticht Peter Jerry mit dessen Messer? Oder stürzt Jerry sich selbst hinein? Plötzlich wird klar, dass Jerry genau das die ganze Zeit gewollt, dass er deshalb so provokant mit Peters physischen und psychischen Grenzen gespielt hatte. Peter flüchtet entsetzt, Jerry stirbt allein auf der Bank.

Wie stirbt man mit siebzehn? Wir sind uns einig, dass wir keinen gespielten Tod, keinen Filmtod wollen. Nein, wir wollen etwas wirklich Glaubwürdiges. Und was man auch mit siebzehn kennt, ist das Zusammenrollen, die Rückkehr in den Embryonalzustand, das Sich-in-sich-selbst-bergen. Jerry taumelt nur ein Stückchen zurück, setzt sich, seine ganze Gestalt um das Messer gekrümmt, das von seinen Händen verdeckt wird, auf die Bank – und lässt sich sanft schlaff zur Seite fallen, wie man es im Zustand tiefer Erschöpfung auf einem Sofa oder in einem Bett machen würde. Zieht die Beine an, Embryostellung eben; die Abkehr von der Welt, das Ausruhen in sich selber. 

Er fällt in sich hinein, entspannt, erschlafft. Der Kampf ist zuende.

Das Licht wechselt von weiß zu blau, und die blue notes von Weather Report durchziehen den Raum, als wären sie eine fortfliegende Seele. Ein vollkommener, ein transzendenter Schluss.

Die Aufführung. Ich spiele Regisseurin und habe mir extra einen Schal um den Hals gelegt, dessen Ende mir klischeemäßig über die Schulter hängt. Und in dieser Rolle trete ich in die Aula, an deren Eingang schon der Kassentisch steht, mit Besetzung. Ich fasse ihn ins Auge und entscheide, dass er auf die andere Seite müsse. Gehe auf die zaghaften Einwände gar nicht erst ein. Der muss nach links! Große Geste, ausschweifendes Armfuchteln, heute gönne ich mir die Parodie. Und tatsächlich, die ehrenamtlichen Kassierer fassen ihn achselzuckend an den Seiten und heben ihn nach links. Mir bleibt gerade noch Zeit, in den Toiletten nach dem kleinen schwarzen Bart zu forschen, aber noch immer ist keiner zu sehen. Eigentlich bin ich unendlich nervös. So nervös, dass ich nicht einmal registriere, wer alles unter den Zuschauern ist, nur, dass der Zuschauerraum anständig gefüllt ist.

Die Spielzeit verbringe ich am Bühnenrand, hinter dem Wandvorsprung verborgen. Eine eigenartige Perspektive, ganz ungewohnt für mich. Jörg und Ingo sind großartig, alles geht gut, alles wird so, wie ich es mir gewünscht habe. Das Publikum ist gefangen, man spürt den Fokus, die Intensität, die Spannung. Kein Laut, als Jerry an der Rampe steht und zu seinem Quadrat spricht, alles lauscht. Ich war schon oft im Theater, aber eine solche Konzentration des Publikums, eine solche Berührbarkeit, habe ich als Zuschauerin bisher nicht erlebt. Ich bin leise erschüttert hinter meinem Wandversteck. Und sterbe tausend Tode. Loslassen. Geschehen lassen. Vertrauen. Würde ich meditieren, was für eine wunderbare Übung wäre das!

Die Schlussszene. Jerrys leises, verhaltenes Sterben, das seine ganze Figur noch einmal zusammenfasst. Der Lichtwechsel, die zarten Töne der Musik. Ich könnte heulen, es ist so berührend, ich weiß, es ist nur Spiel und Jörg ja nicht wirklich tot, aber mir ist, als würde man dahinter spüren, wie es ist, wenn ein Mensch seinen ganz eigenen, ganz stillen Tod stirbt. Ganz unmittelbar spürt man es.

Die Töne verklingen, es ist still. Und bleibt still. Ewig lange, wie mir scheint, so lange, dass all die Ängste der Regisseurin genug Zeit haben, über mich herzufallen. Wo bleibt der Applaus? Hat es ihnen nicht gefallen? Haben wir versagt?? Die Ungewissheit martert mich so, dass ich letztlich doch die Nase hinter dem Wandvorsprung vor strecke und in den Raum spechte. Die Betroffenheit des gesamten Publikums schlägt mir geballt entgegen, eine hohe Welle. Sie sind noch nicht soweit, zu applaudieren, sie sind noch drin. Für sie ist da eben tatsächlich ein Mensch gestorben, und die Erkenntnis und Erschütterung hält sie noch gefangen, selbst dann noch, als Jörg wieder aufsteht und die beiden Schauspieler an die Rampe treten. Erst dann bricht der Applaus los, und er ist echt. Echt laut, echt lange - Gott sei Dank.

Meine Schauspieler ziehen mich aus meiner Ecke heraus, wir verbeugen uns, ich bekomme Blumen von irgendwoher und gar nichts mehr mit. Jenseits der Bühne kommen viele Menschen auf uns zu, stellen Fragen, von denen mir nur noch eine in Erinnerung ist: „Was hatte Jerry in der Hosentasche? Was war das? Das hat mich ja wahn-sin-nig gemacht!“ Die Sonnenblumenkerne! Alles redet auf mich ein, will wissen, aber ich muss auf Autopilot geschaltet haben. Lasse es auf mich einprasseln wie Regen, umarme blind und taub. Erst als meine Schauspieler und ich in der Kneipe auf unseren Erfolg anstoßen, komme ich wieder zu mir.

Sie schenken mir die Abendkasse, als Anerkennung für meine Leistung. Beide wollen unbedingt Schauspieler, ich will unbedingt Regisseurin werden. Wir wissen, dass diese Arbeit etwas ganz Besonderes war. Magisch. Und wir geben uns dem naiven Glauben hin, dass das immer so sein würde.

Aber das Leben will es anders. Ein Jahr später, ich wohne schon in Hamburg, melden Jörg und Ingo sich bei mir. Sie wollen die Zoogeschichte noch einmal aufführen, in einer anderen Schule. Ich bin schwanger und habe den Kopf nicht frei, für Proben bleibt keine Zeit, der Flow bleibt aus, die Aufführung flach.

Und keiner von uns wird, was er oder sie so unbedingt hatte werden wollen.  


 


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