Und gleich noch eins: Entmuttert
Entmuttert
Noch
ein paar Möbel sind in seinem Zimmer stehengeblieben. Die sollen auf
den Sperrmüll, Anfang November, so abgewohnt wie sie sind. Der
Schreibtisch war vor zwölf Jahren schon secondhand; damals war Gold
noch die Lieblingsfarbe des Bewohners gewesen, und ihm zum Trost
hatte ich die Schreibtischoberfläche mit Goldfolie beklebt. Die hat
ihren glänzenden Reiz längst verloren, was bleibt, ist der
historische Aspekt.
Dann
das Bett mit seiner völlig zerrütteten Matratze, die aussieht, als
hätte sie jemand auf der Suche nach etwas Verstecktem rücksichtslos
zerschlitzt und zerrissen. Nur wir, der ehemalige Bewohner und ich,
wissen, dass die Zeit der gnadenlose Täter war.
Zwei
leere Regale. Der Barschrank, der als Nachttisch herhielt. Ich habe
nicht nachgesehen, ob noch Flaschen da drin stehen. Nur im Reflex den
Besen in die Hand genommen, der an der Zimmerwand gelehnt stand, und
einmal durchgefegt durchs Zimmer. Staubmäuse sammeln sich, halten
sich in den Borsten fest. Ich zupfe sie ab, wie es eine meiner
gewohnten Handlungen ist, verlässlich pragmatisch und vielleicht ein
Gegenmittel gegen diese sentimentale Traurigkeit. Nur gut, dass ich
nicht zuhause war, als sie die mitgenommenen Möbel und die gepackten
Kisten abholten, dass ich nicht irgendwo mit scheinguter Laune im Weg
stand, was ich sicher getan hätte, schon ganz unterbewusst. So habe
ich in der Zeit in einer anderen Wohnung andere Umzugskartons
gepackt, solche, die mich nichts angehen, die mir nichts bedeuten,
und das unter dem freundschaftlichen Geplauder, das die locker
sitzende Melancholie im Zaum hält.
Als
ich im Dunklen nach Haus komme, ist also alles vorbei, keine langen
Abschiedsszenen, nur das fast leere Zimmer, das noch ein bisschen
nach ihm riecht, aber schon unbewohnt hallt. Durch das ich einmal
gehe, nachschaue, versuche, den pragmatischen Blick einzustellen:
dass jetzt neu gestrichen werden muss und die Fenster geputzt, auf
jeden Fall und bald. Vor dem einen der beiden hängt auch noch das
Riesentuch mit seiner Lieblingsband drauf, das als Gardine diente,
als wäre sein Reich noch beflaggt. Und da drehe ich um und schnappe
mir den Besen.
Ich
habe schon mehr als genug geheult in den letzten Tagen, heimlich,
weil ich gar nicht erklären könnte, warum. Weil es eigentlich, im
Licht der Vernunft betrachtet, gar keinen Grund gibt, ich auch selber
keinen finde, doch trotzdem steigen immer wieder unbremsbare
Tränenfluten auf, sobald ich auch nur anfange, daran zu denken.
Könnte ich mich darin auflösen, und in diesen alles
überschwemmenden Gefühlen von Verlust, Alleinsein, Hautlosigkeit,
deren äußeres Zeichen die Tränen sind.
Verwaist
fühle ich mich. Da kann ich tausendmal wissen, dass das eigentlich
lächerlich ist, weil er ja nur umgezogen ist und das auch durchaus
an der Zeit war. Dass er sein eigenes Leben leben und das auch spüren
können muss, was aber schwierig ist, solange noch Mutti und Sohn und
damit auch diese Funktionen sich den Raum teilen. Egal wie cool Mutti
ist.
Egal
auch wie sehr sie sich zurücknimmt und dienstleistet und sich
Ohropax in die Ohren stopft, wenn im Nebenzimmer noch Besuch lungert
und Filme schaut, deren Sound dank der guten Boxen durch die Wand
dringt. Ist ja nicht so, dass sie sich nicht darüber geärgert
hätte, Mutti, weil ihr Ruhebedürfnis und das des Sohnes nach
Gesellschaft sich öfter quer stehen, obwohl man ja automatisch und
gern aufeinander Rücksicht nimmt. Weil man sich lieb hat, und nicht
nur verwandtschaftlich, sondern vor allem auch menschlich. Weil man
trotz aller ab und zu aufflammenden Streitereien immer wieder abends
zusammensitzt, eine Zigarette miteinander raucht und Erlebnisse
miteinander teilt. Oder sich in der Küche trifft und sich beim
Kochen kabbelt, weil Sohn die Autorität seiner Ausbildung
heraushängen lässt und Mutti die ihrer Routine, aber gemeinsam
stolz ist auf das, was herauskommt.
All
das macht das leere Zimmer so schmerzlich. Dass das jetzt nicht mehr
sein wird, dass das Geräusch des Schlüssels in der Tür, so
unwillkommen zu manchen Zeiten, so erwünscht zu anderen, nicht mehr
selbstverständlich zum Alltag gehört. Dass sein Fehlen so laut sein
kann, und man sich immer wieder erwischt, wie man inmitten dieser
lauten Leere auf das leise Geräusch wartet. Heulend. Es ist so
peinlich.
Es
ist so peinlich, auf einmal das zu haben, das als wunderbarer
Endlich-wieder-Glückszustand so sehnlichst erwünscht gewesen war:
nicht unterbrochen zu werden beim Schreiben, in Ruhe denken zu
können, keine Sporttaschen voll jungmännlicher Dreckwäsche zu
befreundeten Waschmaschinen schleppen zu müssen, keine bekleckerten
Herde und vollgestellten Spülen zu finden beim Nachhausekommen. Oder
fremde Mädchen im Bad, sonntags beim Aufstehen. Es hat eine innere
Liste gegeben von all dem, was doch bittebitte endlich aufhören
soll, damit sich mein Leben wieder nach Freiheit anfühlt, und ich
mich nach mir. Kein Zusammenschrecken mehr, wenn zu später Stunde
der Pizzabote klingelt oder Besuch für den Mitbewohner. Ich hatte
sie im Kopf, die Liste. Ich hätte sie aufschreiben sollen, dann
könnte ich sie jetzt durchlesen, zwanzigmal, zweihundertmal, so
lange, bis es wirkt. Bis das alberne Heulen aufhört und ich wieder
die in mir fühle, die genau wusste, was sie alles tun würde, wenn
sie nur endlich wieder allein...
Stattdessen
heule ich mich müde, verkrieche mich vor dem Raum, der mich jetzt
umgibt und gefüllt sein will. Habe Angst, weil die Frau, die nicht
Mutter war, plötzlich so unendlich weit weg und lange her erscheint,
und die Frau, die nicht mehr Mutter ist, im Geburtskanal
steckengeblieben. Mutter zu sein war wie eine Rüstung, belastend und
einengend oft, aber auch schützend. Status verleihend, und Stärke.
Jetzt fühle ich mich, als wäre beim Ablegen der Rüstung meine Haut
gleich mit abgerissen, bis ins nun bloßliegende wunde Herz. Ich
wünschte, ich könnte auf einem Friedhof stehen jetzt, am
offiziellen Grab meiner Mutterschaft, mit einer Trauergemeinde hinter
mir und jemandem, der an diesem Grab angemessene Worte spricht. Mit
Blumenschmuck und tröstenden Umarmungen. Und einer üppigen
Kaffeetafel hinterher, an der Geschichten erzählt werden von den
Heldentaten der Verblichenen.
Es
fühlt sich überhaupt nicht falsch an, das Bild, und während ich
mich darüber wundere, heule ich meinen nächsten Tränenstrom in
plötzlich wissender Verbundenheit mit all denen, die Verluste
erlitten haben und in diesem Moment darüber weinen. Ganz gleich, ob
ihnen gerade jemand verstorben ist oder sie lebend verlassen hat. Ob
eine Beziehung schmerzlich zerbrochen ist oder es nur an der Zeit
war, weiterzugehen. Oder ob gerade einfach eine Lebensphase endet und
betrauert werden muss, bevor eine neue anfangen kann. Oder ob die
Erinnerung an einen solchen Verlust, vergangen geglaubt, sich
plötzlich wieder in das Jetzt schiebt wie eine Wolke vor die Sonne.
Ganz gleich. Die Tränen des Verlusts sind Tropfen eines gemeinsamen
Ozeans. Wenn die Welle trifft, müssen sie geweint werden, ganz egal,
ob die Welle groß ist oder klein, ob sie einen mitreißt und ganz
woanders anspült, oder nichts weiter ist als der Zeigefinger der
natürlichen Gezeiten, der einem in dieser Form mahnend auf die Brust
klopft.
So
gesehen darf ich das, darf mich ausweinen, immer wieder, solange es
nötig ist, darf lieb zu mir sein und mich in mir selber
zusammenkuscheln. Muss mich nicht albern finden und rechtfertigen
wollen oder ärgerlich sein, weil ich gerade nichts von dem tun kann,
was jetzt oberflächlich sinnvoll wäre, aber für mein wundes
schweres Herz nur Übersprungshandlung. Muss nicht schon anfangen,
auf- und umzuräumen, kann meinen hausfraulichen scharfkantigen
Pragmatismus in die Besenkammer stellen, außer Funktion. Kann mir
die Erlaubnis geben, schwarze Flaggen aufzuziehen und zu trauern um
das Leben, das gerade geendet hat, und das so lange meins war.
Und
darauf hoffen, dass die Tränen guten Dünger für das Neue abgeben,
wann und wie immer es geboren werden will.
Die
Flaschen hat er mitgenommen, übrigens. Zum Glück.
Ute
von Unten, 2012
Kommentare
Kommentar veröffentlichen