Zurück zum Seitenflügel. Hier: der Softeisautomat
Der
Softeisautomat
Er
steht immer noch da. Ich sehe ihn, als wir vorbeifahren, mein Vater
und ich. Das heißt, ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich
sehe oder nur halluziniere. Kann es sein, dass diese Dinger vierzig
Jahre alt werden? Kann es wirklich sein, dass sie immer noch an genau
derselben Stelle stehen, in genau demselben Winkel, wie früher, wie
damals, wie immer?
Er
muss es sein. So etwas wird doch gar nicht mehr gebaut. In purem
Stahl, mit diesen hellgelben Plastik-oder Porzellangriffen an den
Zapfhähnen, aus denen damals nicht Milch und Honig flossen, aber
Ströme von Eis. Zweifarbig. Vanille-Waldmeister meistens.
Vanille-Himbeer weit seltener. Vanille-Schokolade nur ganz selten. Es
war irgendwie immer nur ein Zapfhahn in Betrieb, selten mal zwei.
Dann konnte man sich die Sortenkombination aussuchen, sonst,
normalerweise, musste man eben nehmen, was da war.
Dass
es überhaupt den Laden noch gibt, vor dem er steht. Den kleinen
Laden an der Ecke, mitten im Ort. Im Ort, der eigentlich nur eine
sich schichtweise ausgebreitet habende Ansammlung von Häusern ist,
ausgehend von einer Hauptstraße, die selber auf der Flucht zu sein
scheint. Nichts da, was einen aufhalten könnte. Nichts, was einen
wünschen ließe, dass man bleiben könnte. Kein Kern, nirgends.
Alles Schöne, das ich damals als Kind trotz allem noch gesehen,
erkannt, gemocht hatte, war nach und nach ausradiert worden. Bäume
gefällt, alte Gebäude abgerissen oder totsaniert oder von Klötzen
aus rotem Klinker ersetzt worden, genau wie überall woanders auch.
Der Bahnhof von damals, mit seiner abgelebten Bahnhofskneipe, deren
letzte wenige Gäste hinter den nikotinbraunen Gardinen die
Hoffnungslosesten unter den Hoffnungslosen waren, die, die es nicht
mehr interessierte, wo sie tranken, nur dass. Und das wollte in
diesem Ort schon etwas heißen, in dem praktisch überall getrunken
wurde, aber eine ungeschriebene Liste sozialen Rankings die Orte
vorgab, an denen das Trinken durchaus bis eigentlich gar nicht mehr
akzeptabel war. Wer sich in der Bahnhofskneipe abfüllte, war ganz
unten, tiefer ging es nicht mehr.
Um
den Bahnhof herum hatten Gleise und Kopfsteinpflaster gelegen. Hier
war der Schulbus abgefahren, hier hatte ich jeden Wochentagmorgen
gestanden, Schlaf in den Augen. Mich in den immer vollen Bus
gequetscht und die Illusion von Flucht und Fortkommen genossen,
umwölkt vom Morgengeruch der anderen Schüler, alle von uns „etwas
Besseres“, wie es im Ort hieß: der Bus fuhr uns zwanzig Minuten
über Land, ins Gymnasium der nächsten Kleinstadt.
Ein
ganzes Stück weiter in den Ort hinein, in der Mitte der Hauptstraße,
die Kreuzung, deren rechten Arm der Bus jeden Tag nahm. Auch dort
damals Kopfsteinpflaster, nicht die Hauptstraße selber, aber eine
erhaltenes Stück straßenbauliches Altertum, Abkürzung zur
Tramperstelle unter hohen Kastanien. Wieder ein Fluchtort: Hier
trampte ich mit vierzehn die ersten Male freitags zu dem legendären
Flecken Erde, an dem ich aufleben konnte. Jeden Freitag. Aber das ist
eine andere Geschichte.
Kurz
vor der Kreuzung und auf der anderen Straßenseite, gegenüber der
Grundschule lag eben der Laden mit dem ewigen Softeisautomaten.
Früher, als ich noch klein war, war es Milchgeschäft gewesen; die
Milch wurde in Kannen abgefüllt, welche von den Käufern mitgebracht
wurden. Schon da gab es den Softeisautomaten, mit Eiswürsten, die in
Waffeltüten gedrückt wurden, jedes Jahr entweder weiß-grün oder
weiß-rosa, Vanille-Waldmeister oder Vanille-Himbeer.
Als
die ersten Supermärkte in den Ort kamen und die Milch in
Plastikbeuteln verkauft wurde, schloss das Milchgeschäft und
verwandelte sich in eine Art Süßwarenladen mit Alkoholausschank,
der erst von manchen, später generell „Zum schmierigen Löffel“
genannt wurde. Nicht ganz so untendurch wie die Bahnhofskneipe, aber
doch irgendwie anrüchig. Vorne vorm Schaufenster, draußen, hatten
zwei Tische gestanden, mit Stühlen, auf denen sich vorzugsweise
diejenigen aufhielten, die nach den Maßstäben des Ortes nicht
solide waren. Junge Kerle, aber um einiges älter als ich.
Discobesitzer. Halbwelt. Sie zu kennen brachte eine schon etwas an
den Rand der Gemeinschaft, wenn es denn eine Gemeinschaft gab. Was es
jedenfalls gab, waren die Leute. Die Leute aus „Was sollen die
Leute sagen“, die, die man nie sah, die jedoch die Normen
bestimmten, richteten und werteten. Ihre Präsenz durchzog den Ort
und ließ spüren, was von einem, seltener einer, erwartet wurde. Es
brauchte nicht ausgesprochen zu werden, es lag in der Luft. Durchzog
sie mit Schwaden permanent latenter Missbilligung. In den
„Schmierigen Löffel“ ging man aus Trotz, zeigte damit, dass
einem diese Normen gleichgültig waren. Und außerdem, wo sollte man
anders hin? Der Softeisautomat aber stand immer noch, wo er gestanden
hatte, unerschütterlich, und immer noch waren die Eiswürste, die er
ausschied, entweder weiß-grün oder weiß-rosa. Waldmeister oder
Himbeer mit Vanille.
All
das, die Geschichte des Ortes wie auch meine, steht ihm, dem
Softeisautomaten, ins stählerne Gesicht geschrieben. Ich lese sie,
während ich staunend vorbeifahre, die Erinnerungen strömen in mein
Bewusstsein wie das Eis damals aus der Maschine. Eine Umdrehung in
der Waffel fünfzig Pfennig, zwei Umdrehungen in der größeren
Waffel eine Mark. Sahnig, kalt und künstlich. Und wenn man nicht
aufpasste und die Waffel schräg hielt, fiel die kunstvoll getürmte
Speise herunter, klatschte auf den Bürgersteig, bildete eine schnell
auslaufende Pfütze. Nur die Waffel blieb noch in der Hand,
enttäuschend leer. Dass das auch eine Metapher für das spätere
Leben gewesen sein konnte, fällt mir nun erst auf.
Er
ist mir unheimlich, der Automat. Es hat sich vieles verändert im
Ort, so vieles, dass er mir vorkommt wie durch ein Zeitloch
gerutscht. Oder ist er selber eine Zeitmaschine? Kommt man, wenn man
es wagt, einen dieser Zapfhähne herunterzudrücken, auf der Stelle
zurück in die Jugend? Dahin, wo dann wieder die coolen Jungs auf den
Stühlen draußen sitzen werden, Kaffee trinken und sich in einer
lässig-herablassenden, aus Fragmenten bestehenden Geheimsprache
miteinander unterhalten? Und: würde ich das überhaupt wollen? Und
was davon würde ich wollen? Die endlosen leblosen Sonntage, an denen
einem nichts einfiel als sich von einem Essen zum nächsten zu
hangeln? An denen man aus lauter Verzweiflung und Langeweile abends
zur Jugendandacht in die Kirche gewandert war, nur um Gesellschaft zu
haben? Und danach noch vor der Schweinedisco hinter dem
Niedersachsenhof, dem größten, was eigentlich hieß: einzigen -
Hotel des Ortes herumzulungern, wo sonst die Schützen des
Schützenvereins ihr Revier hatten? An Sonntagabenden war es eine
andere Welt, eine von fremdartigen Gestalten bevölkerte Welt, und
man selber blieb draußen und hörte die Musik und hatte noch keine
Ahnung davon, was da sonst gespielt wurde.
Die
Zeit war so lang gewesen damals, und jetzt rennt sie. Innerhalb von
zwei Jahren hatte sich so viel verändert damals! Ich hatte mich
verändert. Ich hatte einen Ort gefunden, an dem ich mich lebendig
fühlte, der mich mit Kraft und Sosein auflud, und zu dem der Weg
über die Tramperstelle führte. Ich war geradezu hingepilgert, jeden
Freitag, andächtig bebend vor Erwartung und Hoffnung, selige
Rituale, Ausbruch aus der komatösen Enge des Ortes, in dem ich zu
leben versuchte, aber keinen Platz fand. Ausbruch und Umbruch, mit
der Tramperstelle als Symbol. Nur einige wenige Kilometer zwischen
zwei Welten. Und manchmal kommt es mir immer noch vor, als wäre ich
in diesem Zwiespalt steckengeblieben, als würde ich ihn in mir
tragen, und es fühlt sich immer wieder ein bisschen wie damals an.
Nur dass es keine Tramperstelle mehr gibt, bloß noch die Erinnerung,
wo sie war.
Er
schaut mich an, der Softeisautomat, als würde er mich
wiedererkennen.
Was für ein Genuss, dieses softeis-durchtränkte Element deiner Schriften- wirklich eine grosse Freude, es zu lesen.
AntwortenLöschenVon quälender dörflicher Alltags-banalität zu tiefster Sehnsucht und Hingabe, von Flucht zum Ankommen einen unsichtbaren Bogen geschlagen, ohne dabei Position zu beziehen, ein ewig dauernder Moment in einen Würfel gepackt, den du mit deinen Worten in den Raum des Lesers wirfst ?
Ich mag deinen Schreibstil sehr, finde diese Geschichte sehr unterhalt- und heilsam zugleich, es ist, als würde kurz die "Zeit" stehenbleiben durch einen kleinen Fensterblick, den du gleich-gültig gewährst.