Im Arboretum: Antäus
Antäus
Wenn
ich an das Städtchen Z. zurückdenke, in dem ich vor vielen Jahren
zunächst die Schule besuchte und dann für mehrere kurze, turbulente
Zeiten auch lebte – wenn ich an das Städtchen Z. zurückdenke,
sind die Orte darin, die mir lieb und wichtig waren, eng mit den
Menschen verknüpft, mit denen ich dort zusammentraf. Ich erinnere
mich an sie fast mehr als an die Orte selber, oder besser: ich kann
mich an die Orte nicht ohne diese Menschen erinnern, Freunde,
Bekannte, gewohnte Dabeisitzer... beides gehört in meiner Erinnerung
untrennbar zusammen. Ich erinnere mich, zu welchen Uhrzeiten wir wo
zusammentrafen, was wir taten, worüber wir redeten, welche Spiele
wir spielten, wer von uns meistens gewann und wer fast immer verlor.
Sogar an die Wege erinnere ich mich nur, weil sie zu eben diesen
Orten und diesen Menschen führten. Und auch wenn ich von einigen die
Namen nicht mehr weiß, stehen mir ihre Gesichter von damals immer
noch vor Augen, und an guten Tagen kann ich sogar ihre Stimmen in mir
hören.
Nur
eine Ausnahme davon gibt es: einen Ort, an den ich mich erinnere,
obwohl ich dort nie einen anderen Menschen traf. Dieser Ort, den ich
eine Zeitlang oft besuchte, schien ganz mir allein zu gehören –
und der, den ich dort traf, war kein Mensch.
Das
Städtchen Z. besaß einen Wald, der gleich hinter dem kleinen Park
im Zentrum der Stadt begann, das durch Rathaus und Busbahnhof und
eben jenen Park gekennzeichnet war, und sich von dort bis ans Ende
der Stadt und die Ausfallstraße erstreckte. Vom Park selbst aus sah
man den Eingang zum Wald erst, wenn man ganz an das hinterste Ende
kam, weit weg von den beiden Hauptstraßen, die den Park am vorderen
Ende begrenzten. Ich selbst hatte jahrelang in diesem Park im Gras
gesessen, wo sich an Sommertagen die Schülerschaft des Gymnasiums
traf und gemeinsam auf die Busse wartete, die sie zu ihren jeweiligen
Heimatorten zurückbrachte, ohne dass ich auch nur geahnt hätte –
oder mich überhaupt dafür interessiert - , dass sich nur ein
kleines Stück Wegs weiter hinten der Wald auftat. Was mich letztlich
einige Jahre später überhaupt dazu brachte, das hinterste Ende
des Parks aufzusuchen und von dort aus in den Wald einzutreten, habe
ich längst vergessen; doch ich weiß noch genau, dass es ein früher
Sommerabend war und die Sonne in diesem bereits vergilbten – oder,
poetischer: vergoldeten - Abendlicht leuchtete, ein Stück noch von
ihrem Untergang entfernt, aber schon in dessen Richtung.
Der
erste Teil des Waldes war noch erkennbar zivilisiert, ja geradezu
bürgerlich. Buchen standen dort kerzengerade aufgerichtet und alle
in gleicher Höhe, viel Raum zwischen, kaum Unterholz unter sich.
Großzügig angelegte Wege führten schwungvoll hindurch, überdacht
von einem fast endlosen Baldachin aus Buchengrün. Ein Besucherwald,
kultiviert und ohne den geringsten Zug ungebändigter Wildnis,
bewohnt von Vögeln und putzigen Eichhörnchen. So werde ich wohl
gedacht haben, und im gleichen Moment mir bewusst geworden sein, dass
ich nach Wilderem suchte, Ungezähmterem. Warum sonst war ich, die
ja weder Ziel noch Erwartung gehabt hatte, nur Neugier, mit diesem
Wald nicht zufrieden? Warum blieb ich nicht und genoss das
grüngefilterte Abendsonnenlicht auf einer der an den Wegen
bereitstehenden Bänke?
Ich
weiß es nicht mehr, ja, ich weiß nicht einmal, ob ich es damals
wusste. Mehr aus Instinkt als aus Überlegung werde ich
weitergewandert sein, in die Gegenrichtung zu Park, Straßen und
Zivilisation. Und kurz darauf hatte ich tatsächlich die aufrechten
Buchen und sauberen Wege verlassen, um mich in einer Art Zwischenzone
wiederzufinden. Hier gab es keine Bäume mehr, sondern nur
vereinzelte Büsche, Sträucher und winzige krumme Birken in hohem
Steppengras. Nichts dämmte den jetzt rötlichen Schein der dem
Horizont näher kommenden Sonne, die die gelben Gräserhorste
einfärbte. Aus den breiten Waldwegen war ein schmaler Trampelpfad
geworden, in dessen Verlauf schlammige Stellen und kleine Pfützen
einen moorartigen Untergrund oder ein nahes Fließgewässer
anzeigten. Mein zivilisiertes Ich wäre, so denke ich heute, wohl
umgekehrt, aber mein wilderes Selbst hatte übernommen, umstreifte
die Schlammpfützen durch die an deren Seiten wuchernden Gräser und
zog weiter, weiter, ohne noch wissen zu wollen wohin.
Nicht
allzu lange später endete die Zwischenzone und gab den Blick frei
auf den wilden, den eigentlichen Wald: Hier wohnte ein gemischtes
Volk von Bäumen, Eichen, Birken, Fichten, ganz verschieden groß und
kaum einer von ihnen gerade aus dem dichten Unterholz gewachsen.
Mitten durch ihre Gemeinschaft führte in einer Art Schlucht, drei,
vier Meter tief mit scharf abgebrochenen Rändern, ein schmaler, sich
windender Bach. War das noch ein Weg, auf dem ich ging? Ja, doch ich
ahnte ihn weit mehr als ich ihn sah. Ich weiß nur, dass er vorhanden
gewesen sein muss, denn er führte mich direkt zu ihm.
Er
war eine Eiche, und er war das Herz des Waldes, das spürte ich
sofort. Am Rand der Schlucht war er gewachsen, oder die Schlucht
hatte sich aufgetan, als er schon gewachsen war, jedenfalls reichte
ein großer Teil seines Wurzelwerks offen über die und aus der Wand.
Riesige knorrige verflochtene Adern. Auf seiner der Schlucht
abgewandten Seite hatte er vor sehr langer Zeit, es musste in seiner
frühen Jugend geschehen sein, eine schwere Verletzung davongetragen.
Durch einen Blitzschlag vielleicht? Oder war es ein Sturm gewesen,
der seinen ersten Hauptast und mit ihm einen ganzen Teil des jungen
Stammes abgerissen hatte, bis fast zu den Wurzeln? Es war deutlich zu
sehen, wie schwer die Verletzung gewesen war, und welche enormen
Kräfte er hatte aufbringen müssen, die zu überwinden und
weiterzuwachsen – die alten dicken, wulstigen Ränder um den
fehlenden Teil des Stammes berichteten das. Und als hätte er sich
dem Schmerz zu entziehen versucht, war der schmalere Reststamm
oberhalb der riesigen Wunde zunächst fast waagerecht und in
Krümmungen und Windungen von ihr fort gewachsen bis über den Rand
der Schlucht und hatte dort erst, wie in Sicherheit, Äste, Zweige
und Blattwerk gebildet.
In
der Welle tiefen Mitgefühls, die mich durchflutete, legte ich ihm
die Hand auf den Rand der Wunde... und spürte durch meine eigenen
Adern, mein eigenes fleischliches, knochiges Geäst seine Stärke und
Weisheit und all die Fäden des Waldes, die in ihm zusammenliefen.
„Antäus“ schoß mir durch den Kopf, wer weiß woher, aber so
würde, so musste er für mich heißen, er, der selber keinen Namen
brauchte. Ich setzte mich zu ihm, mitten zwischen seine
weitgreifenden Wurzeln, lehnte mich an seinen halbzerstörten Stamm
und wusste, dass er es war, den ich hatte finden sollen.
Ich
weiß noch, dass ich nicht allzu lange blieb an diesem ersten Abend.
Die Sonne war bereits fast untergegangen, der Wildwald verschattete
zusehens, und ich - oder eher: mein zivilisiertes, an künstliches
Licht gewöhntes Selbst - sorgte mich, den Rückweg durch die Steppe
im Dunklen nicht mehr zu finden. Und obwohl etwas jenseits dieses
Selbst mich dorthin gezogen hatte, wo ich war, traute ich dem nicht
genug, mich ihm zu überlassen. Aber ich ging nicht, ohne Antäus zu
versprechen, dass ich wiederkommen würde.
Als
ich aus dem Wald wieder auf die Steppe getreten war, sah ich nur
wenige Meter entfernt, zwischen Wald und Steppe wie ich selbst, ein
Reh stehen und in meine Richtung wittern, ganz still, als würde es
über mich und meinen Rückweg wachen.
Den
Weg durchs Gras brauchte ich nicht zu suchen, er legte sich von
allein unter meine Füße. Und ich weiß heute noch, wie erstaunt ich
war, dass der Rückweg so viel kürzer und leichter schien als der
Hinweg. Wie schnell und mühelos ich durch die Steppe wandern konnte,
und wie bald sich der zahme Wald und dessen breite Wege vor mir
auftaten - und kurz danach auch der Park, von dem aus die
Straßenlichter und die Autoscheinwerfer unter ihnen wieder sichtbar
wurden, die andere, die vertrautere Welt. Die mir gemessen an der
vielschichtigen, vielfältigen Lebendigkeit des Wilden Waldes
plötzlich schal, unecht und aufdringlich vorkam.
In
diesem Sommer besuchte ich Antäus und den Wildwald oft, und immer
schien der Weg durch die Steppe ein wenig oder ein wenig mehr anders
zu sein als beim vorigen Mal. Ich kann es nicht beschreiben - es war,
als würde ich jedes Mal anders schauen, anderes sehen, das vorher
vielleicht schon da gewesen war, das ich aber nicht bemerkt hatte.
Oder etwas, das mir vertraute Wegmarke gewesen war, nirgends
wiederfinden. Einmal fand ich ihn sogar so fremd, dass ich dachte,
ich hätte mich vielleicht ganz und gar verlaufen, und weil ich gar
nichts fand, das mir vertraut vorkam, kehrte ich schließlich noch
vor dem Wildwald um. „Er will dich heute nicht einlassen“, sagte
eine innere Stimme mir, während ich mich noch darüber wunderte, wie
fremd mir die Steppe und das Gesträuch darin erschienen, und wie
schwierig es plötzlich war, den Trampelpfad auszumachen, den ich
doch vorher so leicht gefunden hatte.
Doch
das passierte nur ein einziges Mal bei all meinen Besuchen. All die
anderen Male zog mich die Präsenz des Wildwaldes und die von Antäus
durch die Steppenlandschaft umso stärker, je näher ich ihm kam,
und ich fühlte mich willkommen. Setzte mich auf meinen Platz
zwischen seinen Wurzeln, lehnte mich an seinen Stamm, hörte dem Wald
zu und lernte. Ja, Antäus war mein Lehrer. Der beste vielleicht, den
ich je hatte, und sicher der weiseste.
Zu
beschreiben, auf welche Weise er mich lehrte, fällt mir schwer. Wie
lässt sich etwas in Worten schildern, das ganz jenseits von Sprache
und Begrifflichkeiten geschah, sogar jenseits von Lauten oder Gesten?
Oder Blicken? Ach, wir zivilisierten Menschen brauchen immer etwas,
das zu hören oder zu sehen ist, damit wir es als Übertragung von
Information, als Austausch, wahr- und ernst nehmen, nicht wahr? Aber
wir verstanden uns in einer Stille, die all die Geräusche des Waldes
in sich aufnahm, und in dieser Stille blühte in mir ein Wissen auf,
das direkt von ihm mitten in mein Inneres übertragen zu werden
schien. Ich spürte, wie innig verbunden die Bäume dieses Waldes
miteinander waren, im steten Austausch, über die Wurzeln im Boden
wie über das Gezweig oben in der Luft, und wie alle anderen
Organismen daran teilhatten, jede Art auf ihre Weise. Spürte die
Schockwelle, die das plötzliche Aufheulen einer Kettensäge in
diesem Geflecht verursachte, spürte jeden Baum wissen, wo und wer
jeder andere war und wie es ihm ging, ihre Wachheit füreinander und
für alles Geschehen um sie und zwischen ihnen, und die Verdichtung
der Atmosphäre in ihrem Gebiet, wenn die Sonne sank und eine
unhörbare Ruhe einkehrte. Ach, es ist lange her, und immer noch kann
ich nicht in Worte fassen, was alles diese Lehren beinhalteten, und
wie tief das Wissen um die Verbundenheit des Waldes, alles in ihm
einzeln für meine menschlichen Augen, und doch tief innen ein
einziges vielgestaltiges, unfassbar lebendiges Wesen, in mich
einsank, während ich an seinen Stamm gelehnt saß und schwieg und
atmete und aufnahm.
In
einer dieser stillen, vollen Lehrstunden traute ich mich, eine
wortlose Frage an ihn zu richten, die sich ungefähr und unzulänglich
grob mit „Antäus, wie nimmst du MICH wahr?“ übersetzen ließe.
Es drängte mich zu wissen, was ich, kleiner beweglicher Mensch, Gast
in seiner Sphäre, für ihn war. Dass er mich kannte und
wiedererkannte, konnte ich fühlen – aber wie tat er das, und als
was erschien ich ihm?
Was
ich zu ihm aussandte, war ein Impuls; nicht nur durch meine auf seine
Borke gelegte Hand, sondern durch mein ganzes Wesen schickte ich
diese Frage in seines. Und war erstaunt, dass ich gar nicht warten
musste auf eine Antwort – und auf welche Weise er sie mir eingab:
in meinem eigenen Inneren tat sich, zwischen Herz und Bauchnabel, ein
Raum auf. Und in diesem sah und spürte ich zugleich das Umfeld, das
Antäus und ich in unseren gemeinsamen Stunden teilten, so wie er es
wahrnahm. All die Fäden und Formen des Seins, die hier
zusammenliefen und sich unter seiner dicken, schartigen Borke
verbanden, fühlte ich in mir wie er sie in sich. Und in diesem
kraftvollen, vielschichtigen, gestaltlosen Geflecht glomm ein
winziger Lichtpunkt. Und erlosch. Und glomm wieder auf. Und erlosch
wieder. Das war ich für Antäus.
Ich
begriff, dass er kein Konzept für „Kommen und Gehen“ hatte, er,
der selbst an seinem Ort fest verwurzelt war. Woher auch? Und so war
ich für ihn entweder „da“ oder „nicht da“ und damit
unterschieden von all den Lebewesen im Geflecht, die verbunden und
damit „da“ waren, ob sie sich vom Fleck bewegen konnten oder
nicht. Ein Lichtpunkt! Ich floss über vor Liebe zu meinem Lehrer,
der mir in liebevollem Gleichmut meine ungeschickte Frage so
wunderbar beantwortet hatte, und immer, wenn ich an ihn dachte –
das ist bis heute so geblieben - , denke ich mich selbst als eben den
kleinen Lichtpunkt, wie ein Glühwürmchen, das in diesem so
komplexen Ineinander der Organismen fremd ist und doch willkommen,
das aufscheint, wenn es anwesend ist, aber keine Leere hinterlässt,
wenn es wieder fort ist. Es gab keine Zeit, die sich darin
ausdrückte, ebensowenig wie es „Kommen und Gehen“ gab. Es war
einfach. Da oder nicht da. Und in dieser Erkenntnis empfand ich mich
zugleich ganz eins mit ihm und ganz frei. Nicht ersehnt, nicht
vermisst, nicht störend... frei.
Und
so saß ich noch lange zwischen seinen mächtigen Wurzeln, an seinen
Stamm gelehnt, winziger Teil auf Zeit eines erfüllten Ganzen. Als
ich mich wieder aufmachte, zurück in die Stadt und Menschenwelt,
fühlte ich ihn immer noch, diesen kleinen Lichtpunkt in meinem
Inneren – und dass mit dieser Erfahrung Antäus auch ein Teil von
mir geworden war. Dass ich ihn nicht mehr würde im Außen aufsuchen
müssen, um diese seltsame stille Gemeinschaft zu pflegen, sondern
dass ich sie ebenso innen finden konnte. Wenn ich mich aus der
hektischen Menschenwelt herauszog und die Ruhe fand, die er und sein
Herzwald mir geschenkt hatten.
Viel
später, als ich längst Z. verlassen hatte, stieß ich auf den Teil
eines Gedichtes von Rilke, das mir zum Wortgefäß meiner Erkenntnis
und Empfindung wurde:
Durch
alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum.
Die Vögel fliegen still
durch
uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich
seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Als könnte ich hier Worte für einen Kommentar finden! Diese Geschichte ist ganz Innenraum, und sie zu kommentieren fühlt sich so unangemessen an wie ein "Like" zu einer Geburt. Deswegen nur: Danke! Jetzt wächst Antäus auch in mir.
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