Im Mittelgang: Die Jahrhunderthochzeit, Teil 1
Die
Jahrhunderthochzeit
Noch
ist nichts zu sehen, aber wenn die Sonne weiterwandert, werden mit
Sicherheit wieder diese hässlichen Schlieren an den Kacheln über
dem Herd aufleuchten, die Elke nie so richtig wegbekommt. Und Sabine
wird hinschauen und sich ertappt fühlen, so tun, als hätte sie
nicht, während Elke entweder etwas Dreistes oder etwas
Entschuldigendes sagt, je nachdem, ob sie sich gerade mit ihrer
hausfraulichen Schlampigkeit im Einklang befindet oder sich ihrer
schämt. Sie weiß es nie vorher, auf welchem Fuß Sabines Blick sie
erwischt. Früher wäre es ihr egal gewesen, aber früher hatte
Sabine auch nie behauptet, selber nicht mehr so darauf zu achten,
dass der Fußboden gewischt ist, die Fenster geputzt sind. Früher
war das im Ganzen kein Thema gewesen; es hatte mehr als genug andere
gegeben.
Die
neue Kaffeemaschine gibt ungewohnte Geräusche von sich. Ein
rhythmisches Blubbern, wie ein Hubschrauber im Anflug. Sie nimmt
weniger Platz weg als die alte, leckt auch nicht, dafür ist sie
lauter. Ob Sabine auch das bemerken wird? Noch klingelt es nicht,
aber sie wird pünktlich sein. Nicht dass sie darauf achten würde,
sie ist es einfach, dafür sorgt schon ihr infernalischer Fahrstil.
Und Elke weiß, wie sie aussehen, welchen Blick sie haben wird, wenn
sie die Treppen hochsteigt. Und dass sie ihr Zigaretten mitbringen
wird statt Blumen, und wie jedes Mal wird Sabine, wenn sie die
überreicht, „Wenn das Annette wüsste!“ sagen, und Elke wird
„das wäre doch nicht nötig gewesen!“ grinsen. Exnachbarin
Annette ist schon lange aus Sabines und damit sekundär auch aus
Elkes Leben verschwunden, aber ihre unzerstörbare Normgerechtheit
hält immer noch für neckische kleine Rebellenrituale her. Annette
hätte niemals Zigaretten mitgebracht, und statt Blumen schon mal gar
nicht. Dafür wohnt sie jetzt mit Mann und den obligatorischen zwei
Kindern - ein Junge, ein Mädchen, wie es sich gehört - im
Goldeselweg und natürlich im eigenen Haus. Im Neubaugebiet, wo alle
Straßen nach Märchen benannt sind. Sabine und Elke finden den
Straßennamen hochgradig peinlich, besonders weil sie davon ausgehen,
dass Annette den als durchaus passend ansieht und wahrscheinlich bei
jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnt. Und ob sie nicht
vielleicht nachts im Bett ihren besserverdienenden Mann Paul,
eigentlich ein netter Kerl, „Goldesel“ nennt? Viel zu kreativ,
hat Sabine abgewunken, darauf käme sie nie.
Es
klingelt. Die Kaffeemaschine hat auf den Punkt ausgeblubbert, Gott
sei Dank. Nicht dass das wichtig wäre, aber Elke, bei aller Freude
über den Besuch, fühlt sich angespannt. Es ist so wie eigentlich
keine Lust auf Sex haben, wie leise befürchten, dass im falschen
Moment die falschen Gedanken auftauchen, die an all das, was man
stattdessen tun könnte. Oder sollte. Oder wollte. Und es einem
anzumerken ist, dass man nicht ganz dabei, auf diffuse Weise flüchtig
ist, obwohl man doch daliegt – in diesem Fall: dasitzt - und
freudig konzentriert erscheint. Sich besondere Mühe gibt, am Ball
zu bleiben, komme, was da wolle.
Sabine
steigt die Treppen hoch, mit diesem freudig-erwartungsvollen Lächeln,
von dem Elke nicht mehr so ganz weiß, wie echt es noch ist, was ihr
erst in diesem Augenblick auffällt. Auch Sabine sieht etwas
angestrengt aus, die Falten um die Augen tiefer, was aber an der
Fahrt liegen kann oder eben an allem möglichen anderen, nicht in
Elkes Verantwortung liegendem. Und richtig, sie hat Zigaretten
mitgebracht. Und ein Frühjahrsblümchen, was Elke dazu bewegt, ihren
rituell ironischen „Das wäre doch nicht nötig gewesen!“-Text
diesmal beinahe ernst zu meinen. Ihr ein schlechtes Gewissen
verpasst, weil sie selbst Sabine nie etwas mitbringt. Wie sie sowieso
selten überhaupt bei Besuchen etwas mitbringt, weil sie halbbewusst
davon ausgeht, dass ihr Besuch an sich schon Geschenk genug ist, so
selten, wie sie sich dafür in Bewegung setzt. Dann fühlt sie sich
wie eine Muschel, die sich aus ihrer Schale herauswinden muss, um der
sozialen Kontaktpflicht zu genügen, ungeschützt und
unkontrollierbaren Umständen unterworfen. Es kann durchaus gut
gehen, aber das weiß sie nie vorher, es hat immer ein bisschen etwas
von einem Opfer, und ist ein Opfer nicht auch eine Art Geschenk?
Früher
war das anders gewesen, früher hatte sie sich fast überall zuhause
fühlen können, voller instinktiver Neugier auf das, was sich hinter
anderen Türen auftun würde. Hatte staunend den Geschichten
gelauscht, die fremde Menschen erzählten, die zufällig gerade um
denselben Tisch saßen, an den Elke sich hatte platzieren lassen.
Jetzt kommt es ihr vor, als wäre das eine andere Elke gewesen, eine,
die nur noch wenig mit ihr zu tun hat. Jetzt ist es, als hätte sie
alle verfügbaren Geschichten bereits in ihrer Muschel gesammelt,
angestaut, als wäre nicht mehr viel Neues da draußen, als müsse
sie mit dem Platz, den sie dafür hat, so sparsam umgehen wie mit
Zeit, Geld und Nerven. Als wäre, schleichend, irgendetwas geschehen,
das sie die Stille mehr lieben lässt als die Stimmen, als wäre das
Aufgeben dieser Stille auch schon ein Opfer, von dem sie sich
überlegen können muss, ob und wofür sie es bringen will. Dass sie
das für Sabine tut, hat sie nie in Frage gestellt, bislang.
Sie
kennen sich seit fast fünfundzwanzig Jahren, seit der elften Klasse.
Immer ist Elke die Ältere gewesen, die sich Sabine mit wohlwollendem
Interesse zugeneigt hat, das Sabine mit Bewunderung beantwortete.
Sie hat - mein Gott, ist das lange her! - miterlebt, wie Sabine sich
Frank geangelt hat, damals noch ein großgewachsener Jugendlicher,
jetzt seit zehn Jahren mit Sabine verheiratet, seit fast
fünfundzwanzig Jahren mit ihr zusammen, Vater ihrer drei Kinder und
ihr immer noch halsbrecherisch treu ergeben. Elke war seine
Trauzeugin gewesen, nicht Sabines, ein kluger Schachzug von Frank,
denn so hatte er sich Elkes Solidarität gesichert, eine mächtige
Verbündete gewonnen. Fünfundzwanzig Jahre, fünf Kinder – drei
für Sabine, zwei für Elke - , drei Leben, mindestens. Wenn sie
Sabine ansieht, die sich gerade selbst eine Zigarette anzündet und
den Kaffee
probiert, wirkt diese vertraut und fremd zugleich. Es sollte
vertrauter sein, denkt Elke, oder besser nur vertraut, und sie schämt
sich etwas deswegen. Kommt sich vor wie vor einem schon immer an der
Wand gehangen habenden Bild, an dem vor kurzem heimlich etwas
verändert wurde, und man starrt und starrt und bemerkt die fremde
Note, findet aber nicht heraus, woraus sie besteht. Geradezu mager
ist Sabine geworden, eine gutaussehende Frau, aber mit einem herben
Zug, den sie vorher nicht hatte. Sie treibt viel Sport. Joggt und
geht ins Fitness-Studio, wo sie sich mit den anderen Frauen angelegt
hat, weil sie den Stepper eine Stunde am Stück belegt. Elke ist fett
und fährt Hometrainer, während sie Krimis schaut. Nie länger als
eine halbe Stunde. Und manchmal macht sie Gymnastik. Das reicht ihr.
Großen sportlichen Ehrgeiz hatte sie nie.
Früher
ist es Sabine gewesen, die immer gleich mit dem Erzählen losgelegt
hat, Elke hatte das erfrischend gefunden. Gleich auf den Tisch, was
sie so bewegt, meistens hatte Frank etwas verbrochen oder scheinbar
verbrochen, was Sabine zu Klagen und Wutausbrüchen verleitet hatte
und Elke zu besonnenem Ratschlag. Nein, das war es nicht nur gewesen,
aber wenn Elke zurückdenkt, fällt ihr das als erstes ein, das
jahre-, nein, jahrzehntelange zuverlässige Dauerthema. Jetzt aber
lehnt sich Sabine geradezu innerlich zurück, was wie eine Art
Lauerstellung wirkt, und weil Elke nicht weiss, was Sabine von ihr
erwartet, fängt sie an zu reden. Von ihrer eigenen komplizierten
derzeitigen Liebesgeschichte – Elke hat weit seltener
Liebesgeschichten als früher, vor den Kindern, aber wenn, dann
neigen sie dazu, geradezu unerträglich kompliziert zu werden und
einen Rattenschwanz an psychologischen Studien und lebensverändernden
Erkenntnissen nach sich zu ziehen, in die eine Freundin haarklein
eingeweiht werden muss. Das gehört dazu. Die jetzige Geschichte ist
da besonders ergiebig, auch weil Elke sich dadurch, wie sie findet,
in ganz neue Seinsbereiche hat mitreißen lassen, deren Erfahrung
wiederum Unmengen an ebenso neuen und nie vorher dagewesenen, so
meint sie jedenfalls, Erkenntnissen ausschüttet. Elke liebt es,
Erkenntnisse zu sammeln und weiterzugeben. Es sind weite, umfassende
und vor allem eben ganz neue Felder, in denen sie sich in der
Zwischenzeit herumgetrieben hat, für sie selbst erschütternd
überraschend, und angesichts von Sabines irritierender Wartestellung
hält sie es geradezu für ihre Freundinnenpflicht, sie wenigstens
von den letzten Ent- und Verwicklungen zu informieren. Auf den
neuesten Stand zu bringen, in der Hoffnung, Sabine davon begeistern,
einen Gesprächsfaden herausspinnen zu können. Aber Sabine scheint
nicht zu wollen, sie springt nirgends an, auch wenn Elke noch so
geschickt Köder auslegt, die für Sabine von persönlichem Interesse
sein müssten. Sie kennt sie lange genug, um das abschätzen zu
können.
Sie
kennen sich auch gut genug, um sich nicht anzuschweigen, aber wenn
sie es gerade jetzt täten, wäre es kein gutes Schweigen. Nicht das
wohlige Ausruhen in vertrauter Geborgenheit, sondern ein heimlicher
Kampf um die Tischhoheit. Elke spürt, irgendwo im Hinterkopf, dass
Sabine zurückhält. Nicht einsteigt, nicht teilnimmt, sondern auf
etwas wartet, von dem Elke nicht weiß, was es sein könnte. Oder
besser: sollte. Sie hört sich selbst, mit einer Stimme, die so
klingt, als hätte sie alles im Griff, die im Erzählen von
Entdeckerlust und Leidenschaft schwingt, aber das tut sie in einer
Art leerem Raum. Fällt nicht zu Boden, das nicht, aber findet auch
keine Resonanz, wird nicht zurückgeworfen, entschwebt wie eine
Schönwetterwolke, die sich versegelt hat.
Wenn
Sabine dann doch etwas erzählt, klingt es wie Abhaken, eher nach
Protokoll als nach vertrauensvoll Mitteilbarem. Punkt eins, Punkt
zwei, nichts, worauf locker einzugehen wäre, außer mit höflich
scheinbares Interesse bekundenden Rückfragen; eine Pressekonferenz,
kein Dialog. Früher war Sabine die im Gespräch Leidenschaftlichere
gewesen, von allem bewegt, durchwühlt, gebeutelt, voller Drang, sich
auszudrücken. Jetzt verliest sie die Neuigkeiten ihres Daseins wie
eine Nachrichtensprecherin, was Elke so irritierend findet, dass sie
gar nichts mehr zu sagen weiß und sich, ganz und gar untypisch für
sie, in die konventionellen Aufgaben der Gastgeberin rettet. Noch
Kaffee? Oder lieber Tee? Innerlich sehnt sie sich fast nach dem
aufdringlichen Blubbern der Kaffeemaschine, das einen kleinen
launigen Spruch aufwerfen könnte, etwas zum gemeinsam Lachen. Aus
dem Bauch, hoffentlich, nicht das rituelle, inzwischen halbgezwungene
Lachen, „das man immer so macht“ an den entsprechenden Stellen,
so wie man reflexartig auf eingeblendetes Gelächter vom Band
reagiert. Einem Band, das vor Jahren aufgenommen wurde, als die Luft
noch nicht so eisig war.
Wahrscheinlich
besitzt jede Frau von Vierzig in ihrem Inneren einen gigantischen
Speicher, in dem alle zwischenmenschlichen Situationen und Parameter,
die sie je erlebt hat, aufgezeichnet sind. Auf den bei der Bewertung
neuer Lagen zurückgegriffen werden kann, dessen Inhalte sich binnen
Sekundenbruchteilen abrufen und vernetzen lassen..Hätte Elke längere
Beziehungen gehabt statt der zwar meist spektakulären, aber immer
pränatal versterbenden Bindungsversuche, die den Großteil ihrer
Beziehungsbiografie ausmachen, würde ihr verzweifelt suchender
Erinnerungsexplorer wohl Analogien finden: Die Entdeckung schleichend
sich erweiternder Risse, aus denen die Fehler kriechen, die man beim
Partner so lange gar nicht bemerkt hat, das Gefühl der Fremdheit,
das Zerren an den Nerven anlässlich sonst so lieber Gewohnheiten.
Etwas Sterbendes, das mit am Tisch sitzt, während man frühstückt.
Ein tickendes Ende, nicht wie eine explodierende Bombe, eher wie eine
Uhr, die irgendwann, bald, stehenbleibt. Elke kennt mehr oder
weniger dramatische Abschiede, auch sich hinziehende, aber die
Geläufigkeit des Alltags fehlt ihr. Für die Brüche im Gewohnten
braucht es das Gewohnte als Vergleich. Braucht Ehen, nicht
Liebschaften. Zu wissen, was der Andere macht und wie er es macht,
und gerade daran, dass er es noch immer macht, aber anders – oder
gar nicht einmal anders, nur mit einem anderen Unterton -, zu
erkennen, dass etwas vorbei ist. Vielleicht noch nicht ganz, aber
tendenziell. Kälte, die durch die Gefühlsritzen kriecht. In der
Hinsicht ist das mit Sabine für Elke so etwas wie eine Ehe, erkennt
Elke jetzt, und fühlt sich darauf nicht vorbereitet.
Sie
ist froh, als Sabine erwähnt, weniger nachrichtensprecherisch als
zuvor, dass sie Petra doch nicht noch einmal angerufen hat. Elke
wittert darin die Chance, einen Fuß in Sabines bislang geschlossene
Tür zu bekommen, denn zu Petra gehört die Jahrhunderthochzeit, und
die ist für sie beide gepflegter Kult. Ein erprobtes Mittel, sich
einig zu sein, Gemeinschaft heraufzubeschwören, sich wie bei einer
Geistergeschichte herrlich zu gruseln und gegenseitig die besten
Szenen in Erinnerung zu rufen, als könnten die je daraus
verschwinden. Die Jahrhunderthochzeit, das ist ihr gemeinsames
Meisterwerk, eine konzertante Erzählung für zwei Stimmen, bei jeder
passenden Gelegenheit gern auch vor Publikum vorgetragen und mit den
Jahren immer weiter verfeinert. Wenn etwas die unsichtbare Schranke
zwischen ihnen verschwinden lassen kann, dann sie.
Petra
war eine gemeinsame Freundin gewesen, auf der obskuren, aber
idyllischen Privatschule in der Heide und danach noch eine Zeitlang
in Hamburg, als alle drei zufällig im selben Stadtteil wohnten. Ein
paar Jahre jünger, das Küken, vom Dorf, mit blonder
Dorffriseursdauerwelle, stattlich, grobknochig, patent und
bodenständig. Ihr Niedergang, da waren Elke und Sabine sich immer
einig gewesen, hatte begonnen, als sie sich mit Ralf liiert hatte,
einem emporstrebenden Speditionskaufmann, um einiges älter als sie.
Kein attraktiver Mann, im Gegenteil, und auf eine etwas aufdringlich
vertreterhafte Art gesellig. In ihrer gemeinsamen Wohnung gab es
schwarze Ledersofas, schwarze Vitrinen mit Innenbeleuchtung und
venezianische Masken aus dem Kaufhaus an der Wand, aber kein
einziges Buch, das hatte Elke alles gesagt. Es war die Zeit, als
Sabine und Frank beschlossen, endlich zu heiraten, und Sabine schwor
noch Jahre danach, dass nur der Neid Petra bewogen hatte, Ralf ihrer
sehr stürmischen, unbefriedigenden und mit Streitereien durchsetzten
Beziehung zum Trotz das Eheversprechen aus dem Kreuz zu leiern.
Natürlich würde die Hochzeit im Mai stattfinden, das gehörte sich
so. Sabine, da noch in näherem Kontakt zu Petra stehend, lästerte
schon vorab gebührend; Ralf fand nicht ein Prozent ihrer Gnade, und
sie fand, nicht zu Unrecht, dass sich Petra durch ihn negativ
verändert hätte. Und nein, eigentlich wollte sie sich dieses
Desaster an Hochzeit, das es unweigerlich werden würde, nicht antun.
Elke und Frank waren da einträchtig anderer Meinung gewesen: Sabine
sähe das alles zu negativ, es wäre sicher lustig, dabei zu sein -
wenn auch nur, um herauszufinden, ob sie recht behielte.
(Weiter in Teil 2)
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