Die Jahrhunderthochzeit, Teil 3
Kerzengerade
hatte Sabine dagesessen, die Augen auf der Tanzfläche; Elke hatte
ihre Gedanken gehört und genau gewusst, wen sie innerlich als
nächsten zerrupfte. Der dickliche, glatzköpfige, in seinem
Nylonhemd schwitzende Diskjockey, dessen launig-schlüpfrige Ansagen
wohl nur auf Butterfahrten Publikumserfolge gefeiert hätten, war
schon zu weit unter ihrem Niveau, um überhaupt beachtet zu werden,
doch die Tänzerinnen und Tänzer und ihre Kleidung hatten es ihr
angetan. Sabine war immer die Stilbewusstere, Elke die
Essensbewusstere gewesen; bei der Jahrhunderthochzeit hatten beide
ihr Futter bekommen, zumindest was das Lästerpotential anging.
Auch
von den unmöglich gekleideten Gästen ist nicht viel im Gedächtnis
geblieben. Elke weiss noch, dass der Cappuccino überraschend gut
schmeckte, und dass Sabine ausgesehen hatte wie eine zwar zur
Objektivität verdammte, aber innerlich ihren eigenen Gedanken
genüsslich hingegebene Modenschau-Moderatorin. Elke selbst hatte
sich zum ersten Mal überchic gefühlt, better dressed than the rest,
in einem schönen bordeauxfarbenen zweiteiligen Kleid, mit
durchkomponiertem Zopfkranz um den Kopf inklusive eingesteckter
echter Blüten. Sie bedauert immer noch, dass sie ihr Spiegelbild
nicht hatte mitnehmen können, das die vielen Spiegel in den Räumen
dankbar zurückgeworfen hatten. Dass nur die Leute fotografiert und
gefilmt hatten, die man nicht nach Fotos fragen wollte, ums Verrecken
nicht.
Ein
weiterer Moment nachhallenden genüsslichen Entsetzens war und bleibt die „Traumschiff-Szene“: Zu den vom schmierigen DJ ausgeworfenen
Klängen von „Also sprach Zarathustra“ sprangen plötzlich im
Festsaal vier Türen auf, durch die vier Kellner mit vier
wunderkerzengespickten Eisbomben traten, frenetisch beklatscht von - fast - der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Es war dieser Moment gewesen, in dem
Sabine und Elke spontan die Flucht antraten, sich in einem der
Vorräume an den Mahagonitresen setzten und sich strikt weigerten,
den wieder zu verlassen. Weder für den Boxkampf, zu dem sich gerade
die männlichen Gäste in dichten Horden vor den überall präsenten
Fernsehern aufbauten, noch für das Feuerwerk, das der Bräutigam für
die Braut hatte inszenieren lassen. Das bei Nieselregen der
unfreiwillig hinausgetriebenen Gesellschaft vorgeführt werden
sollte, und zu dem der schmierige DJ mit peinlichen Sprüchen die
Gäste nach draußen zu nötigen versuchte.
Elke
sieht wieder den Schulfreund von Frank vor sich, einen kleinen
Wichtigtuer mit Küchentapetenkrawatte und Fistelstimme, den Sabine
nur den „Wichser“ nennt und der Elke zur Steigerungsform
„Zweifingerwichser“ inspirierte. Sabine erinnert sich - und
erwähnt es jedes Mal -, dass der ein pubertäres „Auszeit“
gebrüllt hatte, als Frank und sie sich geküsst hatten. Elke
erinnert sich an Franks Nonchalance, die an dem Abend durch nichts zu
brechen war; später hatte er anschaulich geschildert, wie er mit
dem Bräutigam rauchend draußen gestanden hatte, vor dem Brautgefährt, einem echt amerikanischen Truck mit schrillfarbiger Blaue-Lagune-Airbrush-Deko Marke „Jeanspärchen knutschend im Sonnenuntergang“.
"Siehst
du, Frank - das ist für mich Kunst!“ hatte Ralf, auf das
kreischend bunte Bild zeigend, ergriffen geseufzt. Und es tatsächlich und inbrünstig ernst
gemeint. Auch dieses Zitat ist unverzichtbarer Bestandteil des
Kultes.
Ach, und
die Hochzeitstorte! Eine überdicke Decke aus Marzipan, mit aus den
Deckenresten wohl eilig, jedenfalls unfeierlich grob modellierten Rosen bestückt
und, - immerhin sind beide Brautleute auch Speditionskaufleute, und
das muss als Thema mehr oder weniger konsequent durchgezogen werden -
einem riesigen Lastkraftwagen als Mittelbild. Das Innenleben der Torte hatte halb aus Biskuit und halb aus purem säuerlichem Quark bestanden und im Verbund mit der
üppigen Marzipanschicht derart disharmonisch geschmeckt, dass man
aus den angegessenen Stücken das Backwerk wohl im Ganzen hätte
wieder zusammensetzen können, aus den dicken Blöcken, die überall auf
Tischen und Sideboards abgestellt und nach ein, zwei Bissen verlassen worden waren. Was zu
erwähnen zu Elkes Part gehört, die den verzweifelt appetitlosen
Hunger jenes Abends nie vergessen wird.
Jetzt,
in Elkes Küche, ist es ein böses Zeichen, dass Sabine dieses Mal
nicht wie sonst vergnügt bemerkt, wie klein und hilflos Elke später
in einem der Sofas versunken war. Wie sie nicht einmal mehr Lust
gehabt hatte zu rauchen. Wie sie Frank mit ersterbenden Stimme
gefragt hatte, wann sie denn losfahren könnten... Das war immer
Sabines nachträglicher Triumph gewesen, Elke so am Ende ihrer Nerven
erlebt zu haben, hieß das doch, dass ihre schlimmsten und von
Freundin wie Mann vorher so schwungvoll abgewiegelten Befürchtungen
mehr als eingetroffen waren. Dass sie mit ihrer Desasterprognose
vollkommen Recht gehabt hatte. Und nicht nur das, sondern dass es
tatsächlich Situationen gab, die selbst Elke mit ihrer trägen
Gemütlichkeit nicht mehr aussitzen konnte; dass auch diese
Fähigkeit, die Sabine vollkommen abging und daher von ihr im Stillen
beneidet wurde, ihre ungeahnten und vorher nie erlebten, aber von Sabine deshalb umso
freudiger begrüßten Grenzen hatte.
Gerade
weil dieser Triumph, den Elke ihrer Freundin jedes Mal wohlwollend
gönnt, nun ausbleibt, fühlt sie sich auf seltsam ungreifbare Weise
wie in das damalige Desaster zurückgeworfen, oder besser: wie in
eine unvorhergesehene und unerwünschte Fortsetzung dessen. In ihrer
eigenen Küche. Es ist, als würde ihr Sabine durch den Bruch mit
ihrer erzählerischen Routine den Rest an Boden entziehen. Sich damit
aus der Geschichte herausradieren und Elke darin allein sitzen
lassen. Ihren liebsten Part verweigern? Das ist, als würde sie
plötzlich das Ende umschreiben: es wird eine andere Geschichte.
Eine, mit der Elke nichts mehr anfangen kann. Der die gemeinsame
Essenz fehlt. Die, nach all den Jahren, auf einmal auseinanderfällt
und zum gewundenen Skelett einer Geschichte wird, zum toten Aal auf
der Fischplatte.
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