Die Jahrhunderthochzeit, Teil 4

(Die Jahrhunderthochzeit, Teil 4)

Damals hatte Sabine, den Triumph der Rechthabenden im Rücken, den Aufbruch bestimmt; sie selbst wäre sogar ohne Abschied vom Brautpaar gefahren, doch Elke in ihrer Schwäche hatte, was ihr überhaupt nicht ähnlich sah, auf Einhaltung der Konvention bestanden. So waren sie quasi Hand in Hand zur Braut gewandert, die rauchend und verloren im Saal stand, während der Bräutigam eine schmalhüftige Brünette nach der anderen auf die Tanzfläche zog. Hatten sich artig und wohlerzogen bedankt und waren geflüchtet, einig und leise kichernd wie Schulschwänzerinnen. Waren nachts noch zu dritt in die Eckkneipe bei Elkes damaliger Wohnung eingefallen, hatten mit tiefem sinnlichem Vergnügen und entfesseltem Appetit Pommes, Currywurst und Croque gespeist und mit theatralischen Küssen auf die hölzerne Tischplatte die Rückkehr ins echte Leben gefeiert. Sich gegenseitig lachend und sich in Nachgrauen schüttelnd die Details erzählt, die die jeweils andere verpasst hatte; es war die Geburtsstunde der Jahrhunderthochzeit gewesen, die Komposition der Sinfonie, sozusagen, das Ende der Anfang.
Sie kann es nicht einfach weglassen! Verwirrt und für sie selbst überraschend: verletzt schaut Elke Sabine ins Gesicht, sucht nach einer einfachen Erklärung, findet keine. Weiß nicht, ob sie ein Stichwort vergessen hat, aber selbst wenn, sie haben es nie so erzählt, besser gesagt: nicht erzählt, dass das etwas ausgemacht hätte. Was die eine vergisst, liefert die andere, das war die unausgesprochene Regel gewesen, und die hatte immer gegolten, darauf hatte man sich verlassen können. Sabines Blick ist dicht, geschlossen wie ein Bankschalter, sie lässt nicht einmal durchblicken, ob sie weiß, wie viel Macht sie mit dieser Wendung ausübt. Dass sie Elke einfach so lange Zeit später in der unsäglichen Hotelbar sitzen lassen kann, zusammengesunken auf dem Sofa, als wären sie nie, und vor allem nicht gemeinsam, von dort aufgebrochen.

Als wäre alles nicht passiert, und damit auch all das nicht, worüber sie nie so ausufernd und genussvoll hatten reden müssen, weil es kein solches eingeübt komplizenhaftes Empfinden hervorgebracht hätte: Sabines eigene Hochzeit, mit Elke als Franks Trauzeugin, die an der vor dem Standesamt wartenden Brautgesellschaft vorbei in die Eisdiele hatte laufen müssen, um die vollgekotzte Jacke eines ihrer Söhne auszuwaschen. Slapstick. Die Taufen von Susannes Kindern. Die Geburtstage. Das zelebrierte Grillen zu zweit, „um die männliche Grillherrschaft zu brechen“. Am Telefon gemeinsam durchgestandene nächtliche Krisen. Überhaupt, all die Gespräche miteinander, die aneinandergereiht eine immense Spanne intensiv verbrachter Lebenszeit ergeben. All die Dramen, all die Abenteuer, all die Erfahrungen. Für Elke scheint all das jetzt in den Zwischenräumen zu hängen, die die nicht zuende erzählte Jahrhunderthochzeit aufreisst, wie Spinnweben, hauchzart und klebrig zugleich. Sie hat sich seit Jahrzehnten nicht mit Sabine gestritten, was sie jetzt fast bedauert, weil sie nicht mehr weiß, wie das geht. Weil sie einfach nicht weiß, ob ein Streit irgendetwas ändern, die auseinandergedrifteten Kontinentalplatten wieder zusammenschieben würde. Und weil sie, wie sie jetzt erschrocken feststellt, Angst hat vor dem, was dabei herauskäme.

Petra, die Jahrhundertbraut, hatte Ralf noch einen Jungen geboren und sich dann scheiden lassen. Sabine war ihr sporadisch in der Stadt begegnet, bis Petra nach der Scheidung zurück nach Ostereistedt zog und dort ihre Jugendliebe Jürgen heiratete. Elke kann sich an Jürgen noch erinnern, sie hatte ihn einmal mit Petra zusammen getroffen. Er hatte ihr gefallen, für sie ist es eine Art Happy End. Sabine mag keine Happy Ends. Wohl auch deshalb hat sie ihre Idee, wieder mit Petra Kontakt aufzunehmen, dann doch fallen gelassen. Vielleicht auch, weil sie fürchtet, dass die jetzige Petra ganz anders sein wird als die damalige, und dass ein Kontaktrevival es unmöglich machen würde, die desolat gekleidete, permanent paffende Braut mit dem Propeller auf dem Hintern und dem Gummiband um den Mittelfinger immer wieder rituell erstehen zu lassen. Zum ersten Mal hält Elke das für wahrscheinlich, zumindest was Sabines Haltung betrifft, oder redet sich das ein, um wenigstens so etwas wie eine Erklärung zu haben, für wenigstens einen kleinen Teil des Ganzen.

Sie hält den Rest des Nachmittags aus, irgendwie. Rettet sich in ihre notorische träge Gemütlichkeit, zieht sich dahinter zurück, funktioniert im bewährten Sinn. Blendet die sarkastische Stimme in sich aus, die das liebgewordene Freundschaftsbild madig machen will, als wäre sie ein aufdringlicher Werbesprecher im Shoppingkanal. Sabine, die wirkt, als hätte sie einen Kampf gewonnen, zeigt sich leutselig und erzählt nun ohne Aufzählungszeichen dies und das. Dass sie doch noch studieren will, Pädagogik, was sie schon seit zwanzig Jahren vorhat, was Elke schon seit zwanzig Jahren hört, wofür sie beim besten Willen keinen unterstützenden Enthusiasmus mehr aufbringen kann. So wohnt sie einfach bei, aus einem bisher nicht gemessenen Orbit, spielt, um ein bis zwei Nuancen moderater als sonst, eine, ihre, Rolle und vermutet, dass Sabine das jetzt ebenso tut, dass sie eigentlich nur gekommen ist, um eine Lücke in die Jahrhunderthochzeit zu reißen, dass sie nur dem Anschein nach noch Elke gegenüber sitzt . Tickt die Uhr überhaupt noch?

Sie verabschieden sich wie üblich, umarmen sich, Elke schaut Sabine nach, die sportlich die Treppe hinunterspringt, sie winken und lächeln beide, als wären sie noch, oder wieder, Schülerinnen. Damals hatten sie sich kaum trennen können, hatten sich so lange gegenseitig nach Haus gebracht, bis eine bei der anderen übernachtete. Die Zeit scheint um die Ecke zu liegen und zugleich in einem anderen Universum, Lichtjahre, aber nur ein Wurmloch entfernt. Es zeigt sich keins; als Elke die Tür schliesst, kommt sie sich vor wie Captain Janeway auf der Voyager, mit einem seltsamen Heimweh nach einem Zuhause, von dem sie nicht mehr weiss, wie sie es erreichen soll. Und ob es die lange Reise wert ist.

Wenn es nicht schon so dunkel wäre, denkt sie, würde sie jetzt gern die Kacheln putzen. Vielleicht bekäme sie die Schlieren ja weg, endlich.

Kommentare

Beliebte Posts