Die Geschichte von Jodie dem Schwein
„Hab‘
ich euch eigentlich schon von Jodie dem Schwein erzählt?“ fragte
Birgit eines Abends. Heike und ich, die nebeneinander auf Birgits
Bettsofa saßen und wie immer den üppigen Teller mit Süßkram, der
wie immer auf dem Couchtisch stand, leerzufressen versuchten,
schauten synchron Birgit an, dann einander, und schüttelten die
Köpfe. „Jodie daff Fwein? Nö. Niemalf.“
Ein
sanfter Regen von mikroskopisch kleinen Schoko-Erdnussbröckchen
ergoss sich über Tisch und Teppich. Was niemanden kümmerte. Heike
und ich brannten beide darauf, mehr über Jodie das Schwein zu
erfahren, und Birgits Tonfall ließ darauf schließen, dass sie
bereit war, mehr zu erzählen. Außerdem brauchte sie sich ums
Saubermachen nicht zu kümmern, das erledigte ihre Mutter nebenbei.
Birgit
und Heike waren dreizehn, ich zwölf. Birgit und Heike wohnten
einander fast gegenüber unten am Fluss, ich acht Häuser weiter oben
an der Straße, die dorthin führte und die nur zehn Häuser lang
war. Man hatte in der Ecke nicht so viel Auswahl, was Freundschaften
betraf, aber Birgit war bei weitem die Coolste von allen möglichen
Freundinnen, und ihre Freundschaft schon fast eine Ehre.
„Jodie
ist nicht wirklich ein Schwein. Jodie ist ein Pooka. Sie hat
rotglühende Augen und wohnt in meinem Kleiderschrank. Wenn ich den
aufmache, steht sie manchmal da drin und glüht mich an. Einmal hat
sie sogar im Feuer gestanden, als ob der Schrank innen brennt. Sie
ist fast genauso groß wie der Schrank. Ich traue mich schon gar
nicht mehr, den aufzumachen.“ Sie sagte das in einem so ernsthaften
Ton, mit leisen Anflügen von Grauen im letzten Satz, dass Heike und
ich synchron zu kauen aufhörten und Birgit sorgenvoll und gebannt
anstarrten.
„Was
ist ein Pooka?“ frage ich, die „Mein Freund Harvey“ noch nicht
gesehen hat.
„Ein
irischer Naturgeist.“ sagt Birgit. „Was macht der denn dann
hier?“ frage ich leicht unwirsch. Wie kann man das mythische Irland
gegen die norddeutsche Tiefebene eintauschen, schon mal als Geist?
„Neein, der Name kommt aus Irland, wo Jodie herkommt, weiß ich
nicht.“ stellt Birgit klar. Und bevor weitere Fragen kommen,
erzählt sie uns mehr von Jodies erschreckendem Treiben. Dass Birgit
manchmal Jodie direkt an ihrem Kopf hören kann mit nur der Außenwand
des Hauses dazwischen, wie sie grunzt und buddelt. Die Seite des
Hauses kennen wir – beziehungsweise kennen wir nicht, denn sie ist
mit Buschwerk völlig zugewachsen. Da kommt eigentlich niemand heran,
und schon gar nicht, ohne fette Spuren zu hinterlassen. Waren da
Spuren? „Nein“ sagt Birgit, „da sind nie Spuren. Jodie ist doch
ein Geist.“
Und etwas später, als wir
dann doch wieder über anderes reden, schreckt sie plötzlich hoch
und ruft mit Panik in der Stimme: „Da! Da ist sie! Draußen, unterm
Fenster – hört ihr das nicht?“ Wir hören den kräftigen Wind um
die Hausecke heulen. Jedenfalls denken wir, dass es der ist. Es
könnte natürlich auch Jodie das Schwein sein, wie sich das anhört,
wissen wir ja noch gar nicht. Vielleicht kann es ja auch wie
heulender Wind klingen.
Heike
und ich wollen genauer wissen, ob das wirklich Jodie das Schwein war,
und im Buschwerk auf Spurensuche gehen. Das funktioniert natürlich
nur im Hellen oder im Fastnochhellen so richtig, daher verabreden wir
uns auf einen der nächsten Spätnachmittage.
Als
wir uns von Birgit verabschieden, ist es schon späterer Abend und
stockdunkel draußen. Heike hat es gut, die muss nur einmal über die
schmale Straße und sieht von Birgits Haustür schon die
Eingangsleuchte von ihrer, das kann sie im Sprint. Ich dagegen muss
zwei Häuser weiter nach links und dann zehn bergauf, und die
funzeligen paar Straßenleuchten machen alles beinahe noch schlimmer,
weil dadurch das Dunkel noch dunkler wirkt. Und darin überall ein
zwei Meter großer, wie ein Schwein aussehender Pooka stehen kann,
der eine mit rotglühenden Augen anstarrt.
Ein
paar Tage später findet die Spurensuch-Mission unter Birgits
Zimmerfenster statt; Birgit hat sich dafür extra eine Rosenschere
von ihrer Mutter ausgeborgt. Heike hat einen Spaten mitgebracht, der
eigentlich bei dem, was wir vorhaben, zu nichts nütze ist,außer
vielleicht, Jodie dem Pooka den in die Knie zu rammen, wenn sie sich
blicken lassen sollte. Aber dafür ist das Dickicht zu dicht, deshalb
lässt Heike den Spaten dann doch vorne an der Hauswand stehen. So
brechen wir unbewaffnet durch das dichte Gewirr aus ausgewucherten
nadeligen Sträuchern und ihren Wurzeln
und stellen fest, dass nur ein echter Geist überhaupt bis in die
Nähe der Hauswand kommen kann. Und das, obwohl Birgit immer mal
wieder einen dünnen Zweig abschneidet, damit man wenigstens etwas
weiter gucken kann und dabei nichts ins Auge gestochen kriegt.
Wir
sind uns einig, dass da eigentlich nur Vögel und Katzen
hindurchkommen. Und eben ein Pooka. Die Theorie von Birgit, dass
irische Naturgeister wahrscheinlich sowieso keinerlei Spuren
hinterlassen, wird einstimmig angenommen. Auch weil Birgit ja schon
festgestellt hat, dass in ihrem Kleiderschrank ebenfalls keine Spuren
zu finden sind, weder vom Feuer noch von Jodie selber. Was den Spuk
ja erst richtig zu einem macht.
Über
den Winter schien Jodie das Schwein fest in ihrem Kleiderschrank zu
wohnen, laut Birgit. Sie hatte deshalb die Technik entwickelt, die
Kleiderschranktür mit geschlossenen Augen auf- und das nächstbeste
Kleidungsstück herauszureißen, und nur, wenn es unbedingt sein
musste. „Jodies Augen werfen meterlange Geisterflammen, wenn sie
wütend ist, das sieht so schrecklich aus!“, beschrieb Birgit, „Und
sie ist immer wütend, wenn sie gestört wird.“ Es gab für uns
keinen Grund, ihr nicht zu glauben, darum machten wir, wenn wir
Birgit besuchten, immer einen Bogen um den Kleiderschrank, obwohl
das in dem kleinen Zimmer gar nicht so leicht war. Und dann saßen
wir dichtgedrängt auf dem Bettsofa, Heike und ich, so weit weg vom
Schrank wie möglich, und Birgit im Sessel am Fenster, und wir
stopften uns voll mit Süßigkeiten, quatschten und lauschten der
neuesten Jodie-Geschichte, und bewunderten Birgit für ihren Mut,
weiter in dem Zimmer mit dem Pooka im Kleiderschrank zu wohnen.
Jodie
war zu so einer festen Größe geworden und hatte sich so in meinem
Inneren eingenistet, dass ich, als ich Birgit viele Jahre später
einmal zufällig wiedertraf, nach ihr fragte. „Ach“, sagte die
und lachte, „das hab‘ ich doch nur erfunden.“
So
lapidar war er, der Kollaps der Pookafunktion. So wie bei
Schrödingers Katze die Tür aufmachen. Vorher hatte es einen Pooka
oder auch nicht gegeben, eine Jodie in Superposition sozusagen,
zugleich da und doch nicht. Und das hatte Birgit mal eben ganz
lapidar kaputtgemacht, buh.
Das ganze Spiel war so lange
her gewesen, eigentlich hätte ich lachen und „das hab‘ ich mir
doch immer gedacht!“ sagen können, und vielleicht habe ich das
sogar getan. Aber so erwachsen ich war - ich fühlte mich um die
andere Möglichkeit ein bisschen betrogen, oder besser: um die
Möglichkeit, dass es die andere Möglichkeit gegeben hätte.
Schließlich hatte in meiner Erinnerung immer auch eine Jodie das
Schwein wirklich im Schrank stehen oder unter dem Fenster
herumschnüffeln - oder auf meinem Nachhauseweg auf mich lauern -
können, und gerade das hatte sie so intensiv gemacht, dass ich mich
immer noch erinnerte und sie manchmal ganz deutlich vor mir sah.
Und
während Birgit und ich an der Straße vor dem einzigen Modegeschäft
in dem Ort standen, in dem wir aufgewachsen waren, und
Erwachsenengespräche führten, beschloss ich still für mich, dass
ich jedenfalls Jodie das Schwein nicht einfach sterben lassen würde.
Ausgedacht oder nicht, in meiner Fantasie würde es immer in Birgits
Schrank stehen und böse Geisterflammen aus den Augen im Schweinekopf
schießen lassen.
So
weit kommt das noch, dachte ich, dass ich mir die Monster in meinem
Kopf so einfach wegnehmen lasse, nur weil sie von anderen erfunden
wurden.
Mir ist, als hätte ich ein ganzes Buch gelesen.
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