Die Falscheste für den Job


DIE FALSCHESTE FÜR DEN JOB

Wer damals auf die im Nachhinein wirklich total bescheuerte Idee kam, weiß ich nicht mehr, aber es lief ungefähr so: ich war gerade nach Hamburg gezogen und kannte eigentlich noch niemanden. Außer Sandra. Sandra und ich waren zusammen auf zwei Schulen gegangen und ziemlich dicke Freundinnen, und sie wohnte schon in Hamburg. Und sie hatte einen ganz gut bezahlten festen Arbeitsplatz als Empfangsdame einer mittelständischen Firma mit Büros in der City Nord.

In dieser Funktion hatte sie sich ein bisschen mit dem Kurier eines Reiseunternehmens angefreundet, der die Tickets für die Chefs anlieferte, die Susanne zu bestellen hatte, nennen wir ihn Marcel. Marcel war Student und hatte Sandra schon anvertraut, dass er den Kurierjob nicht mehr lange machen wollen würde, und ob sie jemanden wüsste, der das übernehmen…? Und dummerweise hatte ich genau um die Zeit herum beim Kaffeetrinken mit ihr so was gesagt wie: „Verdammt, ich brauche einen Job!“ Und Sandra hatte wohl sofort eins und eins zusammengezählt und gefragt: „Wie wär‘ s denn mit Kurierfahren?“

Das Blöde an wirklich bescheuerten Ideen ist ja, dass sie oft im Kleid des Sinnvollen und den Schuhen des Machbaren anspaziert kommen, und so war es bei dieser auch. Und: ich brauchte wirklich Geld. Das sorgte auf der Stelle für eine Art Tatsachenverdrängungstsunami, der alle guten Gegengründe direkt vom Tisch fegte. Gründe wie: „Du bist total neu in der Stadt und kennst dich null aus!“ oder „Du hast erst seit einem Jahr den Führerschein und bist bisher nur auf Provinzstraßen herumgegurkt - und sei mal ehrlich: du bist echt so ne lausige Fahrerin, dass du besoffen besser fährst als nüchtern. Und erinnerst du dich an den Abend, an dem du aus der Kneipe ins Auto gestiegen bist, das in der Parkbucht davor stand, und beim Rausfahren nicht gesehen hast, dass du gerade einen Polizeiwagen schneidest? Und der direkt hinter dir bleibt, während du die rote Ampel überfährst und ein paar hundert Meter vorm Ortsschild aufs Gas trittst? Erinnerst du dich an den Lachkrampf, den der Bulle hatte, der zu dir ans Autofenster kam, als sie dich endlich angehalten hatten, und wie er schluchzend vor Lachen `Wissen Sie, was Sie falsch gemacht haben?‘ fragte?“ Ja, das hätte die Stimme der Vernunft gesagt, wenn der Tsunami nicht gewesen wäre, und ich hätte mich daran erinnert, dass ich den Bullen gefragt hatte, ob ich Rabatt kriege, und gewusst, dass sie Recht hatte. Aber sie lag unter dem Tisch und blieb still.

Im Grunde glaubte ich auch nicht wirklich, dass das mit dem Kurierjob überhaupt klappen würde, aber ich hatte so das Gefühl, das Schicksal damit zu beeindrucken, dass ich es wenigstens versuchen würde. Und so nahm mich Marcel unter die Fittiche, fuhr die häufigsten Touren mit mir auf dem Beifahrersitz ab und erzählte mir dabei, was wie wo wichtig wäre. Und danach fuhren wir an die Elbe, nahmen ein Bier in der Strandperle, und ich vergass alles wieder.

Als ich dann tatsächlich bei der Leitung des Reiseunternehmens-Hauptquartiers vorsprach, hatte das Schicksal wohl seinen sadistischen Tag, jedenfalls bekam ich den Job. Und den Autoschlüssel.

Das Auto, einen mittelgroßen Opel, musste ich jeden Morgen auf dem obersten Deck eines mehrstöckigen Parkhauses in der City abholen, dort hatte es seinen festen Parkplatz. Der Weg hinunter auf die Straße bestand aus ziemlich engen Serpentinen, und unterwegs sah man durch gigantische Glasfenster über die Stadt. Beim ersten Mal bekam ich Schübe von Höhenangst und wünschte mir, dass es in dem Auto Kotztüten gäbe wie im Flugzeug – allerdings krampften meine Hände beim Drehen derart ums Lenkrad, dass ich gar nicht nach einer hätte greifen können, auch wenn das supernötig gewesen wäre. Ich war deshalb ganz froh, dass ich nur Kaffee gefrühstückt hatte, und dass der auch keine Anstalten machte, wieder hochzukommen.

Und dann fädelte ich mich im fetten Inner-City-Verkehr in die Spuren ein, die ich noch ansatzweise als die richtigsten in Erinnerung hatte. Ein Meer von Ampeln beleuchtete meinen Weg in abwechselnd grün und rot, und um mich herum brandete Motoren- und Hupenlärm. Von dem ich in den ersten Tagen immer dachte, dass zumindest die Hupen direkt auf mich gerichtet waren und ich bestimmt irgendein mir unbekanntes Straßenverkehrsgesetz übertreten hätte. Aber irgendwann gewöhnte ich mich daran, vor allem auch, weil mein Hirn ganz und gar damit beschäftigt war, die halbwegs richtige Route zu finden. Denn das, liebe Lesende, war schon ein Kunststück für sich. Sechs Stunden für drei abgelieferte Tickets, sage ich nur.

Mit meinem eigenen Auto, einem alten Chrysler Simca, den meine Eltern eines Tages, kurz nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, von einem Altwagenhändler am Ort erstanden und vor die Tür gestellt hatten, war ich wohlweislich nicht in die Großstadt gefahren - obwohl der Wagen, von mir mehr oder weniger liebevoll „Gurke“ getauft, ganz den Eindruck machte, als könnte ihm nichts mehr passieren. Es war schon verdammt mutig- oder eher verdammt surreal -, mich nun mit einem weit neueren Auto, das nicht mal meins war, durch den Innenstadtverkehr zu kämpfen.

Damit meine Nerven das überhaupt mitmachten, musste ich so was wie eine Legende erfinden. So wie im Film: Die heldenhafte, unerschrockene Botin, die jeder Gefahr trotzt, um die wichtige, alles entscheidende Botschaft dorthin zu bringen, wo sie auch wirklich alles entscheiden kann – so etwa. Es war dann natürlich immer etwas enttäuschend, wenn die heldenhafte Botin in einer der Filialen oder bei einer Firma ankam und nicht mit Jubelschreien und Schulterklopfen empfangen wurde, sondern mit distanzierter Sachlichkeit und bestenfalls einem freundlichen Lächeln. Aber hey, die heldenhafte Botin schlägt sich ja nicht aus Sucht nach Applaus durch die feindliche Umgebung, nein, sie tut es, weil jemand es tun muss. Und wenn es das Letzte ist, was die Jemand tut.

Einige Wochen ging das sogar erstaunlich gut. Keine Crashes, keine Katastrophen, ab und zu mal ein paar Falschparktickets - aber das war üblich, hatte Marcel gesagt, da würde auch niemand meckern - , und so langsam bekam ich Routine und kam auch besser zurecht mit Auto, Verkehr und Stadtplan. Wobei mir die Filme im Kopf wirklich gute Dienste leisteten, so motivationstechnisch.

Und dann kam eines Tages, kurz vor Schichtende, der Call vom Hauptquartier übers Funksprechgerät: Last-Minute-Ticket, sehr wichtig, muss schnell gehen, abzuholen am Ballindamm in der Zentrale und nach Harvestehude zu bringen. Tadaaa! „DAS ist ein wahrer Kurierjob!“ dachte ich und wendete entschlossen den Wagen.

Am Ballindamm war schon damals alles, was auch nur ansatzweise beparkbar war, während der Geschäftszeiten dichtgestellt, und natürlich auch an dem Tag. Kein Problem, zweite Reihe, kurz `rein, Ticket holen, wieder `raus, weiterfahren. Ich also hinein ins Hauptquartier, hole das Ticket, stürze wieder zum Wagen, reiße die Tür auf, werfe mich auf den Fahrersitz – und als ich die Tür wieder zuschlagen will, ist sie weg. Ein Auto mit Pinneberger Nummer hat sie mal eben abgefahren und ein Stück mitgenommen, jetzt liegt sie etwas weiter hinten auf dem Ballindamm und gottseidank so, dass der fließende Verkehr noch gut dran vorbei kommt.

In mir höre ich das tutende Horn der Kavallerie: es eilt, das Ticket muss abgeliefert werden! Koste es, was es wolle!! Ich lasse also den Wagen an, fädle mich in den Verkehr ein und fahre an der Fahrertür vorbei – die liegt ja auf der Straße – und ohne sie nach Harvestehude. Wo ich das Ticket abliefere, um mich dann wieder in den immer noch türlosen (so viel bequemer beim Einsteigen!) Wagen werfe und zurück zum Hauptquartier fahre. Als Heldin.

Aber ach, statt tosendem Beifall erwarten mich grimmigste Mienen, und eine dieser sagt mir, dass ich gefeuert bin. Auf der Stelle, jetzt sofort, Papiere, Funkgerät und Schlüssel her, und tschüss. Nix Heldin. Niemand versteht, dass ich nicht mal auf die Idee gekommen bin, drinnen Bescheid zu sagen und zu warten, bis die Polizei kommt und das Ganze aufnimmt. Das ist so weit außerhalb ihrer Parameter, dass ich für sie jetzt genausogut eine Außerirdische sein könnte, auf jeden Fall aber die Falscheste für den Job, die sie überhaupt hätten finden können. Ich spüre die dicke Luft im Raum und versuche auch nicht, es ihnen zu erklären. Drehe mich also um und gehe, ganz die missverstandene Heldin mit einem klagenden Saxofon-Soundtrack, den außer ihr niemand hört.

Als ich das Ganze Sandra erzählte, lachte die Tränen. „Das hast du doch nicht wirklich gemacht?“ - „Doch, hab‘ ich. Du kennst mich doch.“ - „Ja, ich kenn‘ dich eigentlich...aber irgendwie überraschst du mich trotzdem immer wieder!“ Und dann musste ich mitlachen, und Sandra bestellte mehr Wein. „Und was machen wir jetzt?“ fragte ich und war froh, dass ich wenigstens noch eine Freundin zum Lachen bringen konnte. Auch wenn das unbezahlt war – es war doch auch irgendwie unbezahlbar.

Kommentare

  1. Könnte ich sein! Wenn ich irgendwann mal wieder richtig Blödsinn angestellt habe, tröste ich mich damit, dass das irgendwann einmal eine tolle Geschichte abgibt.

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