Integration
Integration (von 2008)
Die
Jugger treffen sich zu freundschaftlichen Winterspielen, und ich gehe
wieder einmal meinem ehrenamtlichen Job als Coffee Sales Managerin
nach. Kuchenspendenbettelbriefe schreiben, Kuchen verkaufen, Kaffee
kochen. Dieses Mal in der Lobby einer dieser klassischen 70er-Jahre
Riesen-Schulsporthallen, mit katakombenartigen Umkleideraumgängen
und holzvertäfelten Garagentoren, hinter denen sich Turnmatten und
Sportgeräte stapeln. Und dem eingeätzten Schweißgeruch von
Generationen von Schulsportopfern, der als Atemluftersatz herhalten
muss.
Die
Lobby ist klein und sieht ein bisschen nach Schlachthaus aus, trotz
der mintfarben gestrichenen Wände. An der Fensterwand ist der
Steinboden geborsten, eine Pfütze hat sich gebildet und ist
gefroren. Wir stellen den großen Mülleimer darauf und die Tische
für die Kuchen davor, denn genau diese Pfütze trennt den Eindruck
„unmodern“ von „abgewrackt“. Und wir wollen es etwas wohnlich
haben. Auch wenn es den Spielern egal ist, solange es Kuchen und
Kaffee gibt. Das muntere Juggervolk nimmt einiges in Kauf, um seinen
Sport auszuüben, pingelig sind die nicht.
Ich
bin mit Sabine gekommen, das heißt, mit Sabine, der Kaffeemaschine
vom DRK und zwei leckeren Blechkuchen. Susanne, deren jüngerer Sohn
juggert und die sich freiwillig auch zum Kuchenverkaufen gemeldet
hat, ist schon vor uns eingetroffen und hat die gespendeten Muffins
bereits dekoriert. Die Kaffeemaschine ist pflegeleicht, ich bin es
gerade nicht. Ich erwarte Katastrophen und sehe sie auch überall,
aber die Kaffeekiste unter dem Tisch, die sehe ich nicht, sondern
schikaniere erst einmal die Mitorganisatorinnen. Aber als der Kaffee
läuft, läuft auch der Rest.
Die
Lobby hat drei Türen. Eine Eingangstür, durch die die ganze Zeit
der Ostwind pfeift, eine zur Halle – und eine, durch die immer
wieder ein paar Frauen mit Kopftüchern und langen Mänteln in einen
geheimnisvollen hinteren Raum verschwinden. Nein, trotz aller
Warnungen fällt mir der Innenminister und sein Aufruf, angesichts
gegenwärtiger Terrorgefahr wachsam zu bleiben, überhaupt nicht ein.
Ich bin nur neugierig und will wissen, was eigentlich hinter der Tür
ist. Was für eine Art Raum, und wozu. Und als die nächsten
bemantelten Frauen die Tür öffnen und hindurchwallen, schaue ich
kurzentschlossen hinein.
Es
ist ein halbgemütlicher, langgestreckter Raum mit einem fast so
langen Tisch, etlichen Stühlen daran und einer Art Küchenzeile auf
der linken Seite, an der sich zwei der bekopftuchten Frauen gerade
betätigen. Ich gucke. Sie gucken... Damit sie nicht denken, ich wäre
in Sachen Terrorgefahr unterwegs und würde sie verdächtigen, tue
ich kund, dass ich ja nur wissen wollte... Und wir lachen alle, für
einen schönen Moment. Ich würde mich wohler und unbefangener
fühlen, wenn es nicht zwischen uns stehen würde, das von der
Politik aufgeblasene Thema. Ich sehne mich auf der Stelle nach den
Zeiten zurück, in denen ich einfach mit Muslimas zu tun hatte, nicht
viel, aber ganz normal eben. Mütter von Klassenkameraden meiner
Söhne, oder die Frauen im Mütterzentrum, mit Kopftuch oder ohne,
ich hatte mir nie Gedanken darum gemacht. Wir waren Frauen. Mütter,
mit kleinen Kindern, ein fast universelles Bindeglied. Ich kannte
Algerierinnen und Afghaninnen, Türkinnen, modern und traditionell,
wir tranken Tee zusammen, naschten Süßigkeiten, während die Kinder
miteinander spielten, feilschten auf dem Grundschulflohmarkt. Meine
Söhne lernten nebenbei ein paar Brocken arabisch – und vergaßen
sie wieder. Und nun stehe ich hier in der Tür und fühle mich, als
müsste ich mich rechtfertigen für etwas, an dem weder diese Frauen
jetzt noch ich irgendeinen Anteil haben. Etwas, das uns unsichtbar
trennt und jede Unbefangenheit vereisen kann.
Kaum
dass ich mich wieder zurück- und die Tür zugezogen habe, kommt ein
ganzer Schwung neuer betuchter Frauen mit dem Ostwind durch die Tür.
Und unter ihnen ist „sie“. Ich hatte gerade mit Susanne darüber
gesprochen, wie praktisch eigentlich so ein Kopftuch ist: es macht
egal, ob die Haare liegen oder der Friseur gepfuscht hat, ob die
Farbe richtig geworden ist oder der Ansatz schon wieder grau... Ich
hatte einmal gelernt, dass die Art der Kopfbedeckung, des Wickelns,
des Bindens, des Knotens, ob mit einer Art Schal oder ohne, viel
Information enthält, über den Kulturkreis der Trägerin, über das,
wo sie sich kulturell und religiös verortet, aber ich hatte es
wieder vergessen. Und so ließ ich verschiedene Varianten außen an
mir vorüberziehen und fühlte mich innen, als hätte ich das Lesen
verlernt.
Aber
ich wollte von „ihr“ erzählen! Eine kleine, rundliche Frau um
die fünfzig, mit auffallend schönem Gesicht und sorgsam gefaltetem
auffallend schönem Tuch. Eine Klasse für sich, die Aura einer
echten Chefin. Um sie herum sammeln sich etliche Kinder in
verschiedenen Größen, der restliche Zug staut sich hinter ihr. Ich
staune. Sie grinst mich an. „Na, wer sind mehr? Ihr oder wir?“ In
ihren scharfen intelligenten Augen blitzt es, darunter erkenne ich,
was mir auch in meinem Spiegelbild manchmal begegnet, Stolz, Zorn,
und eine in mir ruhende, von Situationen unabhängige Verletztheit.
Ein scharfkantiger Scherz ist es, den sie da macht. „Ich geb´
auf,“ sage ich, und dass es ja fast unheimlich sei. Sie nimmt es
ernster als es gemeint war, aber genau das hätte ich an ihrer Stelle
auch. Wenn das Thema anwesend ist oder zu sein scheint, springt die
Flamme an. Die Realität ist selten so sanft, wie man gern sein
möchte. Und wenn man kämpfen muss, auch wenn man gar nicht will,
dann wird man gelernt haben, die Waffe nicht aus der Hand zu legen.
Nicht bevor man die weiße Fahne wehen sieht.
Sie
kommt zu uns an den Tisch, während die Kinderschar weiterzieht in
den hinteren Raum und mehr Frauen von draußen nachfließen. Die
Integrationsdebatte selbst scheint auf mich einzustürzen – aber
bevor ich noch bekennen kann, was ich persönlich davon halte,
schnaubt die Chefin mit blitzenden Augen und erzählt Susanne und mir
voller Stolz, dass sie gerade vor ein paar Wochen einen Kulturverein
gegründet hat. Einen deutsch-arabischen Frauenkulturverein. In
Lüneburg. „Keine Religion, nix, nur Kultur! Wir haben auch
Christen! Kultur und Kennenlernen! Reden muss man miteinander – und
essen. Wenn man Weinblätter probiert und fragt, was das ist, dann
sind die ersten Schritte gemacht!“ Genau das denke, glaube, hoffe
ich auch, und das macht mich frei, sie großartig zu finden.
Der
Kulturverein ist ihre Antwort auf die leidige Debatte, und sie ist zu
Recht stolz darauf. Fünfundfünfzig Mitglieder seien es schon, sie
hätten einen Raum im Geschwister-Scholl-Haus bekommen und würden
sich nur einmal hier, in der Sporthalle treffen, weil der Raum noch
renoviert würde. Sogar der Landrat habe sich für sie eingesetzt.
Der Landrat ist ein eitler Depp, der es nicht mal wert wäre, dieser
Frau die Schuhe zu putzen, kommt mir in den Sinn, aber ihren
blitzenden Augen nach ist sie sich dessen auch selber bewusst. Ihre
Stärke strahlt durch den Raum, und ich frage mich, wer angesichts
dieser Frau auf die dumme Idee kommen könnte, dass eine
Kopfbedeckung etwas mit Zwang zu tun haben müsste. Als gäbe es
nicht genügend Gegenbeispiele. Als wären diese Popanze und
Popanzinnen, die sich zur Zeit bedauerlicherweise als Regierung
aufspielen und dabei alles, dessen sie habhaft werden und an dem sie
sich austoben, zum Klischee verzerren, überhaupt fähig zu werten.
Als hätten sie nicht allein ihre Interessen und die ihres sie
organisierenden Verbrechens im Kopf. Ich selbst bekenne mich als
höchst integrationsunwillig, wenn Integration bedeutet, diese
Regierung und ihre Politik zu akzeptieren.
Während
ich mich dieser Frau verwandt fühlte, nahe, geradezu schwesterlich,
obwohl ich, leider, nicht einen Teil ihrer Kraft in mir habe. Sie
schreitet würdevoll und selbstbewusst, in ihren Raum, zu ihren
Frauen, die Kinder um sich herum. Eine süße Vierjährige ganz in
rosa schreitet hinter ihr her, nach allen Seiten winkend und
strahlend wie eine Prinzessin, bis sie aus Versehen gegen den Rahmen
der offenen Tür stößt. Mit Kopftuch oder ohne, wir stehen alle
bereit, ihr beizuspringen und sie zu trösten - aber sie schüttelt
nur verwundert den Kopf, reibt sich über die Stirn und geht weiter.
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