Unterm Rotlicht

 

Unterm Rotlicht


Viel macht es ja eigentlich nicht her, aber meine Vorstellung macht wie so oft den Rest. Und die wird auch gebraucht bei dem schäbigen verblichenen roten Samt, der die Barhocker überzieht, bei den seltsamen Fransen um die Tresenlampen, die wirken, als hätte eine Bauchtänzerin Teile ihres Kostüms hochgeworfen, und die wären an den Lampen hängengeblieben. Lange her, dass das passiert ist, erzählt der Staub, und die halbblinden Spiegel hinter der Bar können das nur bestätigen.


Jutta wird das alles noch putzen, bevor der Betrieb losgeht, sagt Lothar, und besser ist das. Jutta ist seine derzeitige Freundin, die beruflich putzt und natürlich von Lothar auch dafür bezahlt wird, dass in diesen Laden Ordnung und Sauberkeit einziehen.


Der Raum nebenan, der dazugehört, das „Séparée“, wie Lothar sagt, ist vollgestopft mit verschieden gemusterten, aber fast gleich gigantischen Sofas, zwei, drei, ein Couchtisch lungert in deren knapper Mitte herum wie der Hahn im Korb. Tanztee im Café Keese, von Möbeln nachgespielt. Wenn es eine „Schöner Wohnen“-Zeitschrift für Staubmilben gäbe, wäre das das perfekte Cover.


Ein dicker Vorhang, nahe verwandt mit dem, in dem man sich verfängt, wenn man von draußen kommt, trennt das Separee vom Barraum, was es überhaupt erst zum Separee macht. Und das brauchte es unbedingt in den guten alten Zeiten, denn diese zwei Zimmer waren einmal eine bekannte Animierbar, Lothars Animierbar, einer von mehreren Puffs und Amüsierbetrieben, die ihm gehörten, bevor er „aus steuerlichen Gründen“, wie er sagt, nach Costa Rica emigrieren musste. Nun ja, emigrieren... Jetzt ist er jedenfalls zurück in Hamburg und möchte seine Geschäfte wieder aufnehmen, zumindest einen Teil davon, denn der Jüngste ist er ja auch nicht mehr. Und die Zeiten haben sich doch ziemlich geändert, das alte St.Pauli der Sechziger und Siebziger existiert kaum noch, jetzt, Mitte der Achtziger; die alte Garde, die Beherrscher des Fleischmarktes sozusagen, hat sich zurückgezogen und operiert nun, wenn überhaupt noch, von ganz woanders. Lothar muss sich umstellen, aber das kann er, er ist ja Geschäftsmann. Ein Fuchs, der wittert, was geht und was nicht mehr, und der sich auf seinen Instinkt verlassen kann, auch wenn das Revier längst nicht mehr das alte ist.


Kennengelernt habe ich ihn im La Paloma. Ich hatte Bully, einen der Barkeeper, gefragt, wo man denn hier einen Job bekommen könnte, und der hatte mir den Tip gegeben, Lothar zu fragen, der gerade wieder etwas aufziehen wollen würde. Und Bully verrät mir auch, dass das Lothar ist, als er hereinkommt, der kleine dicke Mann mit dem grauen Lockenkopf und dem Knautschgesicht, der so aussieht, als könnte er mit meinem Vater verwandt sein, und der sogar dieselbe Zigarettenmarke raucht: Roth Händle ohne Filter, wer raucht schon so was. Außer meinem Vater - und Lothar. Ich nehme das als Zeichen, es flößt mir ein unterschwelliges Vertrauen ein, macht es leicht, ihn anzusprechen. Es ist, als würde ich ihn schon kennen, worin nichts Dramatisches liegt, nur eben ein nettes kleines Vertrauensguthaben. Also klappe ich mein Tagebuch zu, das ich immer vor mir liegen habe, wenn ich in meiner Nische am La-Paloma-Tresen sitze, nachmittags, wenn nicht viel los ist und man Ruhe zum Nachdenken und Aufschreiben hat, und frage ihn nach einem Job.


Willst du anschaffen?“ fragt Lothar, sachlich, um das Terrain abzustecken. Nein, sage ich, das nicht, aber vielleicht Tresen machen oder dergleichen? Wir verstehen uns auf der Stelle, es schwingt tatsächlich etwas Väter-Töchterliches mit in unserer frisch zu knüpfenden Geschäftsbeziehung. Lothar erzählt ein bisschen, was er vorhat, und dass er immer noch die alte Animierbar ein Stückchen die Straße hinunter besitzt, die die Keimzelle seines Neustarts werden soll. Ob ich mir das vorstellen könnte? Ich als Tresenfrau und ein paar Animierdamen, die noch zu suchen wären, davor? Dann hätte ich nichts weiter zu tun, als mich um die Getränkewünsche zu kümmern. Fremde Welt für mich, aber ich kann mir fast alles vorstellen, wenn ich nur selbst entscheiden kann, was genau und was nicht mehr, und es beruhigt mich, dass Lothar nicht versucht, mich zu bequatschen und in andere Bahnen zu lenken, und auch ganz und gar nicht so wirkt, als könnte das noch kommen. Ernst genommen fühle ich mich und bin sicher, dass ich nicht ganz woanders lande als ich will, jedenfalls nicht durch Lothar. Ernst genommen...und ein bisschen adoptiert.


Und so stellt er mir auch gleich meinen Arbeitsplatz vor, oder vielmehr: mein Arbeitsplätzchen. Drei Treppenstufen führen vom Bürgersteig hoch zur Tür, die Fenster daneben sind fast blickdicht verkleidet. Zur Linken der Bartür zieht sich eine Stiege hoch in mutmaßlich den ersten Stock des Hauses, die offen lässt, ob man neugierig sein soll oder doch besser froh, nicht zu wissen, wie es hinter ihr weitergeht. Das alles zusammen sieht aus wie sich Akkordeontöne anhören, in Moll und in Schräg, alte Weisen vom Seemannsleben und Sex und Suff in jedem Hafen und drohendem Untergang bei jedem Sturm...abgewrackt, morbid, sentimental. Ich liebe das. Kein Wunder, dass gar nicht weit davon, oben auf dem freien Platz, tatsächlich einer steht, ein akkordeonspielender Seemann. Ohne Ton, weil in Bronze, aber ich höre die Musik trotzdem.


Drinnen probiert Lothar, ob der Strom schon wieder eingeschaltet ist, und ja, ist er; plötzlich und unerwartet schimmert der Laden in sanftem Rot und wirkt völlig anders. Nichts Lächerliches mehr an den verstaubten Fransen um die Lampen oder an den zusammengerotteten Möbeln, nein, im Gegenteil, das Rot verbindet sie zu etwas Magischem, als würde es allem, was sich in diesen Räumen anfindet, den Arm um die Schultern legen und ein verschwörerisches „Du gehörst dazu!“ säuseln. Warm und weich erscheint das Licht, und obwohl der Schein ein stetiger ist, wirkt es, als würde es pulsieren wie das Blut unter lustvoll erröteter Haut.


Ich begutachte mein so beleuchtetes Selbst im Spiegel und finde mich überraschend wunderschön. Und das, obwohl ich noch in meiner pragmatischen Alltagskleidung stecke, in der ich mich ja kenne und so auch spiegle, aber meistens ohne den Wunderschön-Effekt. Unglaublich, was rotes Licht ausmacht! Es wirkt. So magisch, dass ich gar nicht mehr begreifen kann, warum ich ständig auf meiner Makelhaftigkeit herumreite. Spieglein, Spieglein an der Barwand, zeig´ mir ruhig den Vogel, du hast ja Recht.


Es ist das Licht, das die langen Abende und langweiligen Nachmittage ein bisschen süßer und seliger und das bedürftige Schmachten einsamer männlicher Gäste viel viel begreifbarer macht.


Lothar spendiert mir meine Arbeitskleidung, die ich in einem Laden an der Reeperbahn kaufe, einen hautengen, tiefst ausgeschnittenen Schlauch von Kleid in Silber und Türkis, der knapp über meine Oberschenkel reicht; geradezu züchtig und anständig für Sankt Pauli, aber für da, wo ich herkomme, ein komplettes, absolutes No Go, ein bodenloser Skandal, also praktisch stoffgewordener Bruch mit allen bisherigen Orten meiner Aufzucht zugleich. Wenn ich da drin stecke und den Schlauch mit üppigem Fleisch ausfülle, zeigt der Spiegel eine vorher nicht einmal geahnte Variante von mir, und allein deshalb muss ich schon zwanghaft immer wieder Blickkontakt mit ihm aufnehmen: um mich daran zu erinnern, dass ich jetzt die bin: Die Barfrau, die Sumpfblüte, das verlockende, unnahbare, macht- und geheimnisvolle Weib.


Für die Tagschicht hat Lothar Renate angeheuert. Renate wohnt oben, da, wo die geheimnisvolle Stiege hinführt, und eher auf der Seite, von der man gar nicht wissen möchte. Renate hat für Lothar gearbeitet, im Puff, jahrzehntelang, ein so hübsches Mädchen sei sie gewesen, erinnert er sich. Davon ist jetzt nichts mehr übrig, erstens wegen der Zeit, aber zweitens und weit schädlicher wegen des Suffs, und Lothar kann kaum verbergen, wie schockiert er ist, als er sie wiedersieht. Deshalb versucht er ihr unter die Arme zu greifen, obwohl sogar für mich Anfängerin offensichtlich ist, dass das ein Himmelfahrtskommando wird. Renate hat kaum noch klare Minuten, und obwohl Lothar hofft, dass die neue Aufgabe sie wieder aufbauen wird, und ich von seinem guten Willen gerührt bin, ahne ich, dass daraus nichts werden wird. Und ich grusele mich etwas vor ihr, weil sie eigentlich gar nicht ansprechbar ist und meistens wirres Zeug vor sich hin murmelt. Lothar beruhigt mich und sich gleich mit, dass wahrscheinlich am Nachmittag sowieso keine Gäste kommen und sie nur auf den Laden aufpassen muss, was sie ja wohl noch hinkriegen wird. Ich denke darüber nach, dass das so oder so nicht gerade werbewirksam sein kann, wenn in einer gerade frisch wiedereröffneten Bar ausgerechnet jemand wie Renate sitzt, aber ich bin die Anfängerin und Lothar ist der Fuchs, also behalte ich das für mich.


Mir vermittelt Lothar ein Zimmer in der Pension rechts neben der Bar. Durch die Fenster überschaue ich den ganzen Platz bis zur Gebäudereihe gegenüber, bis zum „Treff“, wo die großkotzigen Kleinluden Hof halten, an Tischen vor der Tür lungern und sich durch ihre knallfarbenen Ballonseiden- oder Lederhosen die Säcke kraulen. Lothar verachtet die und ihre Methoden zutiefst und legt großen Wert darauf, dass er selbst und seinesgleichen niemals solche Methoden gebilligt hatten wie diese Typen wohl anwenden. Niemals hätten sie eine Frau unter Druck gesetzt, genötigt oder gar geschlagen, schwört er, im Gegenteil, in ihren Puffs hätten nur Freiwillige gearbeitet, zu beiderseitigem Vorteil in fairen, geradezu freundschaftlichen Geschäftsbeziehungen mit guten Konditionen, und deshalb seien die Frauen auch gerne und vor allem lange bei ihm geblieben. Was stimmen muss, denn ich lerne einige von ihnen kennen, die immer noch große Stücke auf Lothar halten. Und die, wenn er anwesend ist, auf Haus trinken dürfen, und auf die guten alten Zeiten zusammen.


Das ist also die Lage, und ich habe sie von oben im Blick. Kurz vor Schichtbeginn schlüpfe ich dann in meinen Schlauch und in die Pumps, die nicht unbedingt farblich abgestimmt sind, aber wenigstens ein schönes Bein machen. Dann nur noch die Treppe hinunter, aus der Tür und in die nächste hinein, um Renate abzulösen. Die mit leerem Blick, teigigem Gesicht und strähnigem Haar zusammengesunken auf dem Barhocker hinter dem Tresen sitzt, angetan mit etwas, das noch aus ihren guten Tagen stammen muss, die es auch schon längst ebenso hinter sich hat wie Renate dessen Kleidergröße. Irgendetwas Schwarzes, Bauchfreies, aus dem Renate quillt wie ausgelaufener Teig aus der Backform, und sie wirkt in alledem so jämmerlich und buchstäblich abgewrackt, dass ich fast froh bin, weil sie es nicht mehr merkt. Ich rede ihr gut zu, bis sie begreift, dass ihre Schicht abgelaufen ist und ich übernehme, und wenn sie es kapiert, vom Barhocker rutscht und sich quallig auf den Weg macht, die Stiege hoch, dahin, wovon man doch lieber nicht wissen will, atme ich auf.


Nein, es geht nicht gut. Und es dauert auch nicht lange. Eines Tages begegnet mir Renate auf den Treppenstufen, leeräugig, wirr plappernd und hilflos, flankiert von zwei Polizisten, die sie zu beiden Seiten untergehakt haben und in einen Einsatzwagen verschiffen. Es ist das letzte, was ich von ihr sehe. Die Wagentür schließt sich hinter ihr wie Brackwasser über einem untergehenden Stein.


Dann kommt Lou. Die in der guten alten Zeit auch lange bei Lothar gearbeitet hat, dann eine eigene Kneipe bewirtschaftet, die von ihrem damaligen Gefährten in den Ruin gesoffen wird. Jetzt ist sie Anfang fünfzig, hat einen „soliden“, wie auf St.Pauli die Milieufremden genannt werden, Freund, der sie finanziert, und es eigentlich nicht mehr nötig, zu arbeiten. Soll sie auch gar nicht auf Dauer, Lothar hat sie eher als Ausbilderin für mich engagiert, was heißt engagiert, händeringend gebeten hat er sie, mir die Tricks und Kniffe des Bar- und Animierbetriebs beizubringen und quasi mütterlich zur Seite zu stehen. Außerdem, und das erfahre ich erst viel später, hat Lothar Angst davor, dass ich in meiner großäugigen Naivität ihm abgeworben werden könnte. Wie ein Lauffeuer hat es sich über den Kiez verbreitet, dass Zigeuner-Lothar zurück ist und eine Neue vom Land bei ihm arbeitet, echtes ahnungsloses naives Frischfleisch, und Lothar weiß, dass das gewisse Jagdtriebe reizt. Lou soll also vor allem auch darauf aufpassen, dass ich mich nicht von einem der Disco- und Clubbesitzer poussieren und weglocken lasse, die so seriös und weltgewandt auftreten in ihren schicken Anzügen mit den beeindruckenden Geldbündeln in den Taschen, und die ich nicht, aber Lou schon erkennen würde. Allein dass sie dabei ist, wirkt bereits als Signal und verhagelt den Jägern die Tour. Und das beruhigt Lothar sehr, der ja nicht selbst den ganzen Abend in der Bar hocken und aufpassen kann, ohne mit seinem misstrauischen Blick die Geschäfte massiv zu behindern.


Lou ist eine Wucht von einer Frau. „Ich sah aus wie die junge Ava Gardner“, sagt sie, wenn sie mir von früher erzählt,und ja, ich kann es mir vorstellen, denn jetzt sieht sie aus wie Ava Gardner in den Wechseljahren und in Cinemascope. In die Breite gegangen, das Schwarz der Haare kommt wahrscheinlich aus der Tube – mir kommt gar nicht in den Sinn, danach überhaupt zu fragen -, aber sie ist auf eine Weise schön und atemberaubend, eine gelebte Weise, die mit Frauenzeitschriftentips sich den Hintern zu wischen erlauben kann, weil sie aus sich heraus wirkt. Allein schon durch die betonten intensiven Augen mit ihren sich dramatisch wölbenden Brauenbögen, und das alles durchblitzt von der Ironie des Älterwerdens in den in Falten gelegten Augenwinkeln. Die Sicherheit, mit der sie mit allem umgeht, was sich des Weges zu kommen traut, und dass sie in einem Moment sentimental und im nächsten knallhart

sein kann, und beides ihr ebenso fantastisch steht wie alle nur in Nanosekunden aufscheinenden Nuancen dazwischen.


Das ist Lou, und ich bete sie an. Sehr vorsichtig tue ich das, ein bisschen wie wenn man sich mit einem Raubtier anfreundet. Das man besser auch nicht aus den Augen lässt, denn zwischen Schnurren und Zuschlagen liegen nur unberechenbare Bruchteile von Sekunden. Und ich weiß: So wie sie will ich werden, wenn ich mal groß bin. Falls das je der Fall sein wird.


Fürs erste übernehme ich die Tagschicht, während Lou versucht, die Nächte in Schwung zu bringen; zwei Stunden jeweils arbeiten wir zusammen, dann, wenn am meisten oder meistens wenigstens überhaupt etwas los ist. Irgendwer hereinkommt, den wir unterhalten können, und das tun wir gekonnt wie zwei Hollywooddiven. Tagsüber kommen nur Postboten und Lieferanten und selten, aber immerhin doch ab und zu ein paar neugierige Passanten, die wissen wollen, was da wohl hinter dem dicken Vorhang vorgeht. Nicht viel, ehrlich. Ich sitze in meiner Barfrauenkleidung auf dem Barhocker hinter dem Tresen und schaue mir selber im Spiegel zu. Gegen Abend macht der nette alte Mann seine Runde, der liebevoll selbstgeschmierte Brötchen aus einem Korb verkauft, und ich habe jedes Mal Hunger und nehme gleich zwei. „Du siehst aus wie die junge Domenica!“ sagt er immer wieder verzückt und erzählt davon, wie die Legende damals nach St. Pauli kam, und wie ähnlich ich ihr doch wäre, so lieb und so großbusig.


Hinter mir hat Lothar einen Fernseher aufgestellt, auf dem zu Animationszwecken Pornos laufen. Drei Stück hat er mitgebracht, gute Ware, kein Billigzeug, sondern erstaunlich anspruchsvoll: mit echter Story, relativ geschickter Dramaturgie und ansprechender Darstellerriege, ganz zu schweigen von der Bild- und Tonqualität. Damenpornos geradezu, ich wundere mich über Lothars guten Geschmack. Beim ersten, zweiten und sogar dritten Mal habe ich sie mir auch noch interessiert angesehen, und ja, sie haben scharf gemacht. So scharf, dass ich auf dem Barhocker herumrutsche und erröte, als der Postbote mich dabei erwischt, der gar nicht weiß, wo er das Paket und sich hintun soll, aber das lacht man dann weg, weil wir ja beide auf Arbeit sind. Später kenne ich die Pornos auswendig, was sie langweilig und das immergleiche Gestöhne störend werden lässt, und weil sowieso keiner kommt, den sie interessieren könnten, lasse ich sie aus. An den Abenden, dann, wenn Lou und ich unsere gemeinsame Zeit mit der Übergabe der Getränke und der Weitergabe von Barfrauengeheimnissen sinnvoll gefüllt haben, ziehe ich mein Herrenjackett über das silbertürkise Kleid und die Straße hoch, zum inzwischen vollen La Paloma, meinem Revier für jagbares männliches Wild, an dem ich meine rotlichterne Unwiderstehlichkeit beweisen kann.


Die beiden blonden Mädchen, die links und rechts vom Aufgang ihre Standplätze haben, können nicht begreifen, warum ich für Sex mit Männern kein Geld nehme, obwohl ich doch durchaus könnte, und obwohl das bisschen Gage, das ich pro Schicht verdiene und gleich wieder ausgebe, für so gut wie nichts reicht? „Weil ich sie mir so selber aussuchen kann“, sage ich, ein stichhaltiges Argument.


Dem Geschäft nützt das aber nichts, Lothar buttert täglich zu. Ich schaffe es zwar, eines Nachmittags eine Flasche Sekt an den einsamen Mann zu bringen, was als mein Barfrauen-Gesellenstück gewertet und gebührend belobt und befeiert wird – aber Lothar hat sich umgehört und erfahren, dass die Animierbars alten Stils definitiv mausetot sind. Aber so was von tot, und zwar überall. Ein neues Konzept muss her. „Du kannst doch Englisch?“ fragt Lothar mich, yes I can, und schon sieht er ihn vor sich: den London Pub. 

 

Lou und ich feiern unseren Abschied mit einer nachmittäglichen Kaffee-und-Kognak-Orgie in der Albers-Klause, unter uns Mädchen und abseits von Lothars Gehörgängen, schickern uns mächtig einen an und versprechen uns gegenseitig dies und das, von dem wir zugleich wissen, dass wir es nie einhalten werden. Währenddessen werden die Sofas aus dem Séparée gehievt, die Fenster von den Sichtsperren freigekratzt, die Fransen von den Hängelampen abgetakelt. Und die roten Birnen herausgedreht.


Auch mein silbertürkises Schlauchkleid wird arbeitslos; ich hebe es auf für Gelegenheiten, die nie mehr kommen werden, oder als Erinnerung, so genau weiß ich das gar nicht. Wo geht es hin, das geheimnisvolle,begehrenswert im Rotlicht badende Weib aus dem Spiegel? Werde ich es wiedersehen, und wenn ja: wo?


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