Weltenwende II

Weltenwende II


So liege ich in diesem heimelig-altertümlichen Rotklinkerbau und fühle mich darin seltsam behütet. Süffiges Septemberlicht fließt durch die hohen alten Fenster in den hohen alten Raum, Schwestern eilen aufgeräumt hin und her, bringen den mitwohnenden Müttern ihre Kinder zum Stillen und Kuscheln und Drangewöhnen, in mobilen gläsernen Bettchen, in denen die Frischgeborenen beim Schlafen betrachtet und wieder hinausgefahren werden können, wenn die Frischmütter allein sein wollen.


Ich bin auch Frischmutter, aber meine Kinder liegen in der Klinik nebenan in ihren Brutkästen, und die werden nicht hierher gerollt. Statt ihrer bekomme ich eine Pumpe gebracht, um meine Milch abzupumpen, die so reichlich fließt wie bei einer dafür preisgekrönten Kuh. Die abgepumpte Milch wird in Fläschchen gefüllt und eingefroren, denn meine Frühchen brauchen immer nur einen Bruchteil von dem, was ich am Tag produziere. Der weitaus größere Rest dient zur Bevorratung. Immerhin, ich kann ihnen etwas geben, etwas von mir, etwas, das ihnen gut tut und sie wachsen lässt, und das mich daran erinnert, dass es sie gibt. Zwei Polaroidfotos habe ich von ihnen, aufgenommen, als sie aufgenommen wurden drüben auf der Intensivstation, winzigklein müssen sie sein, meine Söhne. Die Einwegwindeln, die sie auf den Bildern tragen, sind zweimal umgeschlagen und sehen trotzdem noch viel zu geräumig aus, die Hand der Säuglingsschwester auf dem einen Foto, die den Tubus hält , wirkt erschreckend riesig.


Außer den Fotos und der Milch gibt es noch meinen aufgeschnittenen Bauch, der mich daran erinnert, dass ich Mutter bin. Der Schnitt liegt unter der Fettschürze, was noch mehr auffällt, wenn ich stehe. Oder gehe, zur Toilette zum Beispiel. In der ersten Nacht erscheint mir eine schon ältere, faltenzerknitterte Krankenschwester, die mich aus dem Dämmerschlaf holt, ich halte sie für einen liebevollen Spuk - bis sie mich mich aufsetzen lässt und mir Franzbranntwein auf den Rücken klatscht. Womit auf einen Schlag all meine Lebensgeister aufwachen und die Schwester real dreidimensional wird. Entspukt. Beide lachen wir über meinen Erweckungsschock, beide für den Moment Freundinnen. „Nichts macht so klar wie Franzbranntwein“, grinst ihr verschmitztes Gesicht, und es stimmt. „Altes Geheimrezept!“ zwinkert sie mir zu. Führt mich zum Klo und zurück und verschwindet dann wieder. Vielleicht doch ein Gespenst? Ich werde sie nicht noch einmal sehen, in der ganzen Zeit, die ich dort sein werde. Obwohl ich darauf warte und hoffe, auf beide, sie und den Franzbranntwein, den belebenden.


Jetzt gerade bin ich – wie viele Tage Mutter? Weiß ich gar nicht mehr, fünf, sechs, sieben... ich fühle mich schwächer als in den ersten, aber das fällt mir nicht auf. Weil ich keine Ahnung habe, wie etwas sein sollte, halte ich alles für normal. Auch die Wundschmerzen, auch das Fieber. Das steigt ab Mittag an, gegen Abend bitte ich um Novatropfen gegen die Wundschmerzen, kriege sie auch, kein Mensch verlangt mir übermäßige Tapferkeit ab. Die Tropfen senken gleich das Fieber mit, das deshalb niemandem auffällt. Gegen Mittag steigt es wieder, und es steigt von Tag zu Tag mehr. Weil ich keine anderen Pflichten habe als Milch abzupumpen, finde ich die Schwäche angenehm, die sich in mir ausbreitet, von Tag zu Tag mehr, wie das Fieber ja auch.


An einem dieser Tage spüre ich seine Anwesenheit. So, als würde er auf der türabgewandten Seite an meinem Bett sitzen, friedlich, freundlich, lässig, die Beine übereinandergeschlagen, rauchend vielleicht, und sich zweifelsfrei am richtigen Ort wissend. Und weil ich ihn spüre, weiß ich das auch. Bin nicht einmal erstaunt, dass er sich gar nicht wie „er“ anfühlt, sondern weit eher wie...“es“. Meine Definitionen und Vorstellungen von ihm als eben „IHM“ mache ich mir also alle selber, er, es an sich ist ein form-, gestalt- und geschlechtsloses Numinosum. Und natürlich spricht er auch nicht wirklich zu mir, nicht hörbar, aber ich übersetze das, was mir seine Präsenz an Erkennen einflößt, automatisch in Worte, die ich verstehen und beantworten kann. So ist das also. So ist er, der Tod.

Kommst du mit?“, fragt er.

Da ist es, das Angebot, das ich eigentlich nicht ablehnen kann. Nicht will. Wie lange habe ich mich danach gesehnt – einfach loslassen können, weg sein, raus aus diesem belastenden, belasteten, verachteten Körper, raus aus der schmerzhaften, boshaften Welt... Aber da sind die Kinder, meine noch unbekannten Söhne, gerade mal tausend Gramm schwer jeder, die jetzt drüben in der Kinderklinik verkabelt und beatmet liegen und leben wollen, wer weiß warum. Verdammt. Es gibt keine Verantwortung, die ich nicht gern jetzt ablegen und an der Schwelle liegenlassen wollen würde, keine - außer dieser.


Ich würde sooo gern!“, sage ich, wort- und lautlos und tief bedauernd, zu meinem numinosen Besucher. „Aber ich kann nicht. Ich kann die Kinder nicht alleine lassen.“ Wer soll sich um sie kümmern? Vorgestern waren meine Eltern zu Besuch, das hängt mir noch nach, ich hatte darum gebeten, dass sie eine Geburtsanzeige in die Regionalzeitung setzen. In der Kleinstadt bin ich zur Schule gegangen, habe dort gelebt, viele Freunde von mir wohnen da noch, gute Freunde. Die will ich wissen lassen, dass es meine Söhne gibt, und dass ich mich darüber freue.

Meine Mutter ist nicht im mindesten begeistert von meiner Idee. Die Leute, die aus „Was sollen die Leute sagen?“, lesen die Zeitung auch. „Lass mal“, sagt sie, „vielleicht sterben die ja doch noch.“ Die. Meine Kinder, ihre Enkelkinder. Die.

Später auf dem Flur begegnen wir dem netten rothaarigen Arzt. “Erinnern Sie mich nicht an diese Nacht!“ stöhnt er, ungefragt. „Wenn wir nicht ganz viel Glück gehabt hätten, hätten wir sie alle drei verloren!“ Meine Mutter schaut, als ob sie diese verpasste Gelegenheit bedauert und das nur deshalb nicht laut ausspricht, weil man ja so was eigentlich nicht sagt. Irritiert bis hilflos wartet mein lieber Rothaariger auf irgendeine Regung in den Gesichtern meiner Eltern, vielleicht haben die das ja gar nicht verstanden? Nein, haben sie nicht. So wie ich das tiefe Mitgefühl nicht verstehen kann, mit dem er dann mir in die Augen funkt. Ich kenne sie ja nicht anders. Ihre Enkelkinder sind für sie einfach ein weiterer Eintrag auf der Liste der Peinlichkeiten und Schwierigkeiten, die ich ihnen schon bereitet habe. Eine lange Liste ist das, zu lang für große Unterscheidungen. Meine Mutter führt sie, mein Vater führt nur die Strafen aus und enthält sich ansonsten der Stimme.

Was sollen die Leute sagen? Als ich während der Schwangerschaft einmal nach Sittensen fahre, um mich mit alten Freunden zu treffen, darf ich zu Fuß nirgends hingehen. Nicht aus Fürsorge, sondern weil ich und mein Zustand nicht gesehen werden sollen von den Leuten, denen aus „Was sollen die Leute sagen?“. Mein Vater fährt mich, wohin ich will, oder besser: darf. Auch da gibt es Auflagen. Zum Glück bin ich nur zwei Tage dort, es reicht nicht ganz, mich komplett mit Scham zu überziehen.


Später erfahre ich, dass mein Bruder, der ältere von den jüngeren, einen riesigen Streit mit meinen Eltern entfesselt hat, weil er es absolut undenkbar und unmöglich findet, erst von unseren gemeinsamen Freunden hören zu müssen, dass er Onkel wird. Während seine eigenen Eltern das stur wegschweigen, als würde es erst dann zur Tatsache werden, wenn sie es aussprechen. Ich selbst bekomme in dieser Zeit tägliche Anrufe von meiner Mutter, die, vielleicht durch die Blume, aber dann eher, als würde man mit dem Blumenstrauß geschlagen, verlangt, ich solle – ja was? Abtreiben? Sagt sie natürlich nicht, da sitzt der Blütenkelch. Es geht ihr nur darum, diese uneheliche Peinlichkeit zu vermeiden, nur keine Bastarde als Enkel, wie würden sie denn dastehen?? Für Alternativen fühlt sie sich nicht zuständig.


Ihre Eltern tun Ihnen nicht gut!“ wird ein anderer von den Ärzten in der Frauenklinik konstatieren.“Wenn Sie auch nur einen Ton sagen, lassen wir die hier nicht mehr ´rein!“ Deutlichst schwingt mit, dass er nur darauf wartet, als wäre Türsteher sein heimlicher Traumberuf. Danke, aber die Anweisung kann ich nicht geben. Es sind nun mal meine Eltern, ich kann mir keine anderen aus dem Hut zaubern, wüsste auch gar nicht, wie die zu sein hätten. Und zu was würde mich das machen, wenn ich meine eigene Genetik verrate? Was soll ich meinen Kindern sagen?

Was einer vertraut ist, kommt einer ja gar nicht so schlimm vor, das kann man schon verkraften, und es gab ja auch schöne Augenblicke, war ja nicht alles schlecht...und all das.


Aber meine Söhne lasse ich ihnen nicht in die Hände fallen. Niemals. Auch wenn das heißt, dass ich den Tod wieder wegschicke, dass ich die Gelegenheit ausschlagen muss, auf die ich immer so gehofft, so sehnsüchtig gewartet habe. Auch wenn es mir vorkommt, als würde ich meine eigene Hochzeit absagen, meinen Bräutigam vorm Altar stehenlassen, das Risiko eingehen, dass mir so eine Gelegenheit wenn schon nicht nie wieder, dann aber sicher auf Jahre hinaus nicht mehr passiert. 

 

Ich sage ab, weil meine Söhne leben wollen. Ich weiß noch kaum etwas von ihnen, aber das. Und weil sie wollen, muss ich. So einfach ist das. Ich weiß, dass es viel leichter wäre zu gehen als zu bleiben, jede Zelle in mir spürt das. Aber ich kann nicht. Und ich werde auch noch lange nicht können, gerade deshalb. Das ist etwas, das ich ihnen geben kann, durch all die trennenden Räume und Wände hindurch: dass es ihr Wille ist, der für mich in diesem Fall zählt, nicht meiner.


Der Tod nimmt das zur Kenntnis, und wenn ich ihn sehen könnte, würde er lächeln. Er, auf seiner Seite, hat kein Problem mit der Zeit. Er weiß, er sitzt am längeren Hebel. Und dass er mir überhaupt die Möglichkeit gibt, mich selber zu entscheiden, verdanke ich seiner Liebe zu mir.

Auf der anderen Seite öffnet sich die Zimmertür. Besorgte Schwestern, die den hereinkommenden Arzt umzingeln, als könnte der flüchten wollen. Sie kommen meinetwegen. Einer Schwester ist meine obskure Fieberkurve aufgefallen, kann nichts Gutes bedeuten, darf nicht sein, das muss mal genau begutachtet werden, mit allem Drum und Dran. Fand sie, und umzingelte mit ihren Kolleginnen den für mich zuständigen Weißkittel.


Ich muss die Kinder doch schon gesehen haben, einmal, in den Tagen zwischen Aufwachen und Fieber muss ich hinübergewandert sein, durch den Kellergang, mit dem die Gebäude verbunden sind, oder? In den Aufzug, hoch zur Kinderintensiv, an der Tür klingeln und sich dann, wenn geöffnet wurde, im Quarantänekorridor desinfizieren und Plastiküberschuhe, Kittel und Haube überziehen. Das kenne ich doch, das sehe ich vor mir, woher denn, und von wann?


Ein schöner Mann ist das, dieser Arzt, hochgewachsen, mit Glutaugen und Haar wie Rabengefieder, märchenprinzlich geradezu. An ihn heften sich die Augen der Patientinnen mit stillem Glanze, die der Besucherinnen werden weit und rund, wenn er vorbeigeht. Jetzt kommt er außerhalb der Visite, sich allein um mich zu kümmern, und ein bisschen kommt es mir vor, als wolle er dem Tod Konkurrenz machen. Starke Waffen, die das Leben auffahren kann: die Hormonposaunen von Jericho.


Rechts vom Gang der Intensivraum in bläulichem Licht, an den Wänden komplizierte Geräte und deren Monitore, in der Mitte die Tische, auf denen die noch zart befellten Babies liegen, unfertig und wehrlos wie aus dem Nest gefallene Vogelküken. Schläuche und Tuben ragen aus ihnen heraus, aus den Nasen, aus den dünnen Ärmchen. Die Körper sind noch nicht mit Körperfett ausgepolstert, jeder Muskel zeichnet sich direkt unter der Haut ab. Der Darmausgang ist ein Loch im Nichts, ohne auch nur den Ansatz von Hinterbackenhügeln zur Seite, was wieder an Vogelküken erinnert. Elektroden kleben auf den zarten Brustkästchen, verbinden Herzen und Lungen mit Monitoren. Zwischen den Tischen wandern still und behutsam Ärzte umher, im ersten Moment wirkt es so, als würden sie an den seltsamen Wesen noch basteln und werken, als würden die hier unter dem blauen Licht überhaupt erst zusammengesetzt, diese Kunstwerke. Oder aus Nährlösung gezüchtet und hier zum Trocknen ausgelegt.


Schwestern und Arzt begutachten die Binde, die sie zwischen meinen Beinen hervorgeholt haben. Viel zu wenig, der Wochenfluss, das macht Sorge, ja allerdings. Und der Schnitt sieht auch nicht so aus, wie er sollte. Hat sich entzündet, aufgequollen und rotglühend erscheinen die Ränder, und darin spannen und stechen die Fäden.

Als der Arzt probeweise einen aufschneidet, um zu schauen, wie tief die Entzündung nach innen reicht, spritzt auf einmal eine fast meterhohe Fontäne stinkender Jauche aus der Wunde. Niemand ist darauf gefasst. Hektisch greifen die Schwestern nach Papierdecken und allem, was die Flüssigkeit aufsaugen könnte, die schwer infektiöse rotbraune Suppe, die aus mir sprudelt wie eine Erdölquelle.


Meine Söhne liegen linkerhand, auf zwei auf Säulen montierten Tischplatten, nicht weit weg voneinander, aber ohne jede Berührungsmöglichkeit, weder miteinander noch mit irgendetwas sonst. Ähnlich sehen sie sich gar nicht, schon jetzt nicht, völlig verschiedene Typen sind es, der eine cremefarben mit blondem Fell, starkem Rumpf, der andere schwarzfellig wie ein Otter und fast nur aus langen Armen und Beinen bestehend. Der Blonde mit rundem, der Dunkle mit schmalem Kopf. Um sie herum blinkt und piept es. Entblößt und ohne Schutzmöglichkeit liegen sie da, im blauen Licht, nirgends etwas Weiches, Zartes, Bergendes. Nur die gefilterte Luft hält ihre konstante Wärme.


Von dannen eilt der schöne Weißkittel, er hat seine Anweisungen gegeben und kann vorerst nicht mehr tun. Der Rest ist Sache der Schwestern. „Sisters of Mercy“ singt Leonard Cohen in mir. I always depended on the kindness of strangers.

Sie scheinen zu spüren, dass er noch da ist. Obwohl sie alle Hände voll zu tun haben und sich darauf konzentrieren, ist ein anderer Ausdruck in ihre Augen getreten. Beileidsblicke, so als würden sie eigentlich Kränze in den Händen tragen, was auch immer sie jetzt gerade geschäftig anfassen und richten. Versteckt trauernde Blicke, als würde schon der Sarg heruntergelassen. „Da ist nichts mehr zu machen“-Blicke. Während mir in Jod getränktes Verbandsmaterial in die Kaiserschnittwunde gestopft wird, „damit die nicht von außen zuwächst, solange innen nicht alles sauber ist!“, wie eine Schwester geübt professionell erklärt. Meine besudelte Bettwäsche gewechselt – von zwei Schwestern, eine auf jeder Seite, ich werde sanft gerollt und muss nicht einmal aufstehen – und der Zugang für das Antibiotikum gelegt, das ich dreimal täglich gespritzt bekommen werde. Eins, das sich nicht in der Muttermilch absetzt, darum bitte ich noch, später. Hier und jetzt dämmere ich, den Schmerzen zum Trotz, gefühlt in den zärtlichen Armen des Todes nach, nur noch ein kleines bisschen, so wie wenn man mit dem Liebsten auch noch den Nachspann eines Films sieht, der einen eigentlich gar nicht interessiert, nur um noch etwas zusammen zu bleiben. Sich nicht so abrupt trennen zu müssen. Wir sind klar miteinander, der Tod und ich, lächeln still über den inneren Aufruhr und die äußere Geschäftigkeit der Schwestern. Wo doch die Entscheidung schon gefallen ist, und ganz woanders.


Sie erscheinen mir fremd, meine Söhne, unter diesem blauen Licht. Kaum vorstellbar, dass sie in meinem Körper gewachsen sind, Teil von mir waren, dass ich ihre Bewegungen gespürt und mit ihnen gesprochen habe. Jetzt stehe ich ehrfürchtig und erschrocken in der Tür, versuche zu begreifen, dass das sie sind. Meine. Muss mich darauf verlassen, dass sie richtig zugeordnet wurden; ich selber habe keine Anhaltspunkte, mir könnte jedes Kind untergeschoben werden. Ich stehe draußen, aseptisch in Plastikfolie gewickelt, und erst allmählich finden meine noch heimatlosen, ungeübten Muttergefühle eine Verbindung zu diesen ausgestellten, von Maschinen versorgten, von Kunstlicht warmgehaltenen Wesen.





Kommentare

Beliebte Posts