Mal' mir das Bild vom Tod

Mal‘ mir das Bild vom Tod


Da liegt er, der Kopf. Nur der Kopf, in einem Raum, der sich aus dem respektvollen Abstand der vielen Nuancen rembrandt´scher Brauntöne zusammenfügt. Wie eine pietätvolle Trauergemeinde halten sie sich zurück, die Brauntöne, stellen sich in den Dienst, dem Kopf einen würdigen Rahmen zu verleihen, fließen in sanften Schichten an- und übereinander, um seine elfenbeinerne Helligkeit umso leuchtender hervortreten zu lassen. Um ihn allein soll es gehen. Aber das will er gar nicht, der Kopf. Er will gar nichts mehr. Er hat es hinter sich.


Im Profil ist er sichtbar, die Augen geschlossen, die vertrauten Gesichtszüge elfenbeinern bleich, gereinigt, geglättet, auf das Wesentliche reduziert. Keine Anstrengung mehr darin, keine Kämpfe. Alle Spuren der vormals so lebhaften Mimik wie ausgestrichen, streng wirkt das und sanft zugleich. So gelöst, dass die Mundwinkel zu lächeln scheinen, obwohl kein Lächeln zu sehen ist. Ein diffuser Lichtstrahl ohne sichtbare Quelle fällt auf Stirnmitte und Nasenwurzel. Wo er auftrifft, schimmert das Elfenbein noch heller. Erlöst. Es war ein friedlicher Tod, das ist sichtbar, und er kann nur wenige Minuten her sein.


Ich kenne den Kopf, das Gesicht, die Züge. Sie sind mir tief vertraut. Kein Wunder: es sind meine. Die, die ich jeden Tag im Spiegel gesehen habe. Und damit ist es auch mein Tod, mein ganz persönlicher. Meine eigenste Erlösung. Ich sauge ihn ein, jede Einzelheit, jede Farbnote, nehme ihn auf wie eine hochauflösende Kamera, speichere ihn innerlich sorgfältig ab und bin dabei zutiefst hingerissen davon, ihm auf diese Weise zu begegnen. Es ist, als bekäme man ein Foto von einer sehnsüchtig erwarteten Verabredung zugespielt, noch bevor die Verabredung überhaupt stattfindet. Dabei ist mir eigentlich gleich gültig, wie wir uns treffen werden, ob so oder ganz anders; mich fasziniert einfach, dass ich ihn überhaupt jetzt schon sehen kann...und wie schön er ist! Und wie schön er mich macht! Das Bild fühlt sich an, als hätte ich den vollkommenen Liebesbrief gefunden, so persönlich, so intim und an so unerwartetem Ort, dass ich nichts weiter tun kann als andächtig vor ihm anwurzeln und den Alltag um mich herum sich auflösen lassen.


Es ist ein Ölbild, natürlich, noch nicht ganz trocken, noch nicht ganz fertig. Ich stehe nackt davor, bin gerade erst von der Bahre aufgestanden, die eigentlich eine Trage ist und dem Hausmeister abgeschwatzt werden musste, der verlangt, dass sie auch jeden Tag wieder zurückgebracht werden muss. Eine Leihbahre also. Und ich bin die Leihleiche. Verdiene Geld damit, als Aktmodell der Fachhochschule, das für den Ölmalkurs jeden Tag Modell liegt, und habe nichts anderes zu tun, als mein wildwucherndes, sich jeder Ästhetik versagendes Fleisch als eben nur das in der vorher festgelegten und immergleichen Position auf der Bahre abzulegen und so regungslos und möglichst glaubwürdig tot herumzuliegen. Sechs Stunden am Tag. Mit Pausen, die ich selber ansagen darf, wenn ich sie zu brauchen meine, weil mir die Schwerkraft zu schwer und zu kräftig wird. Dann erhebe ich mich, was den einen oder anderen noch ins Malen versunkenen Studenten immer heftig erschreckt, rutsche von der Bahre und wandere gespenstisch lebendig eine Runde durch den Staffeleienwald. Betrachte, wie und auf welche Weisen mein ausgestelltes Fleisch in Öl umgewandelt wurde, wie aus meiner Erscheinung etappenweise viele verschiedene Erscheinungen wachsen, viele Farben, viele Sichtweisen. Mit mir als Mensch, als Person, haben die nichts mehr zu tun, ich liefere nur die Vorlage, und so betrachte ich das Ermalte auch: neugierig, aber völlig uneitel. Das Fleisch auf den Bildern erscheint viel nackter als ich, weil unbewohnter. Die Künstler-und-Innen haben es meistens eilig, in den Pausen herauszukommen aus dem Raum, in den Flur, in die Raucherecken; wohltuend leer ist es also im Staffeleienwald, wenn ich meine Spaziergänge mache. In Berufskleidung, das heißt: nackt. Nur wenn ich selber den Raum verlasse, weil mir nach einer Zigarette ist, streife ich mir Hemd und Hose über.


Doch im Augenblick stehe ich drinnen, vor dem Bild meines Todes und neben der, deren Hand es in die Materie geboren hat: eine zierliche kleine Russin, die hinter vorgehaltener Hand als Genie bezeichnet wird, und die lange nach Beginn des Kurses auf einmal auftauchte, eine Staffelei belegte und zu malen begann, ohne mit irgendwem auch nur ein Wort zu wechseln. Still und ernsthaft arbeitet sie, hochkonzentriert und unablenkbar, malt ein Bild, dann gleich ein zweites, und jetzt ist dieses fertig. Ich weiß nicht, wann und wie das geschehen sein kann, ich habe keine Vorstufe davon gesehen. Es ist, als wäre es nicht entstanden, Pinselstrich für Pinselstrich, sondern fertig aus dem Nichts erschienen. Ein metaphysisches Polaroid, als Ölgemälde verkleidet? Kann gut sein, kommt mir wahrscheinlich vor, denn auf den anderen Bildern sehe ich Leichen – oder besser: mich als Leiche -, auf diesem aber einen Menschen, der gerade gestorben ist. Sehe den Tod selbst. Meinen.


Sie ist wirklich klein und zierlich, die Malerin, mit dunklen Locken und, wie ich im Nachhinein mutmaße, weil ich gar nicht darauf geachtet habe, dunklen Augen. Geduldig wartet sie neben mir, während ich versuche, in all meiner stummen andächtigen Aufgewühltheit ein paar Worte zusammenzuharken, die mein Entzücken angemessen ausdrücken könnten und nicht zu blöd klängen. Was so schwierig ist, dass ich hoffe, sie kann meine Aura lesen oder mit irgendwelchen verborgenen Antennen aufnehmen, was immer sie an Beifall wünscht und ich nicht formulieren kann. Sie wirkt ja sowieso, als wüsste sie es längst, und als wäre Beifall ihr gleichgültig. Als ich sie frage, ob ich es kaufen könnte und was sie dafür haben wollen würde – und wie schnöde das klingt, selbst im vorsichtigsten Konjunktiv! -, erklärt sie mir in ihrem slawisch durchtränkten, sanft singenden Deutsch, das sich wie blühende Hortensien anhört, dass sie es noch für eine Prüfung braucht. Aber danach würde sie es mir schenken. Ja bitte! Ich brauche dieses Bild. Ich möchte es immer bei mir haben, möchte davorstehen und den Frieden einsaugen, den es ausstrahlt, mich von ihm anfüllen und beruhigen lassen, bis er selber kommt - und was könnte jemand anders schon mit meinem Tod anfangen? Wer könnte den haben wollen, außer mir? Ich verdränge oder vergesse, dass es ein wirkliches Kunstwerk ist und eine Aussage, eine Magie transportiert, die es gleichgültig macht, wer die Tote war. Ich halte mich für die Einzige, die mit diesem Bild etwas anfangen kann und weiß doch zugleich, dass das einerseits zwar richtig, aber andererseits auch ein Irrtum ist. Kommt nur auf die Perspektive an.


Und wie es in solchen Geschichten immer läuft: ich bin so sicher, dass wir uns wiedersehen werden, dass ich sogar ihren Namen vergesse. Es wird das einzige Mal bleiben, dass wir miteinander reden, das letzte Mal, das ich sie sehe, und damit auch das einzige Mal, dass ich vor diesem Bild stehen kann. Sie verschwindet einfach, und das Bild verschwindet mit ihr. Noch monatelang halte ich nach ihr Ausschau, wann immer ich in der Schule bin. Ströme von Studenten-und-Innen ziehen an mir vorbei, auf den Fluren, den Treppen, ich verrenke mir den Kopf, um sie alle zu scannen, mustere jeden Strom eindringlich wie ein fahndender Zivilpolizist und richte all meine Sinne darauf, die kleine Russin sofort zu identifizieren und festzuhalten, wenn sie irgendwo auftaucht. Vergebens. Sie taucht nirgends mehr auf und, was noch schlimmer ist, ich höre auch nicht einmal mehr von ihr oder über sie. Es ist, als gäbe es sie gar nicht, hätte sie nie gegeben, auch die Bilder nicht, die sie von mir gemacht hat. Als hätte ich das alles geträumt, sonst nichts. Nicht einmal ihre Staffelei bleibt stehen.


Allmählich vergesse ich, wie sie ausgesehen hat. Das Bild aber, meinen gemalten Tod, meine Verheißung, vergesse ich nicht, es bleibt in meinem Kopf hängen. Die spiegelvertrauten Züge, streng und entspannt zugleich, nur noch das Wesentliche vorhanden und alle zeitlichen Spuren gelöscht, und dahinter die stille fließende Gemeinschaft der Brauntöne. Und darüber, aus unsichtbarer Quelle auf Stirn und Nasenwurzel auftreffend, das Licht.






Kommentare

  1. Ganz große Magie! Danke! Mehr an Kommentar schaffe ich nicht, bewegt mich sehr.

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