Nachtodbesuche 2: Besuch von Archie

 

Nachtodbesuche 2: Besuch von Archie


Es war ein Nachmittag im Januar 2001. Vier Monate zuvor waren die Jungs und ich von Hamburg nach Lüneburg umgezogen. Dafür hatte es gleich mehrere zwingende Gründe gegeben, aber meine elfjährigen Söhne hassten mich trotzdem. Und ich verstand das nur zu gut… Sie hatten gleich ihren gesamten vertrauten Freundeskreis verloren, samt all ihrer Stützpunkte, und damit auch einen großen Teil ihrer bisherigen Identität. Da helfen auch keine mütterlichen Worte, das ist einfach Scheiße.


Mit Marek war ich noch zusammen - er hatte sich sowohl bei der Renovierung der alten Wohnung als auch beim Umzug selbst als echter Held erwiesen -, aber zu der räumliche Entfernung hatte sich auch eine innere Distanz eingestellt, die sich mit jedem Telefonat nur breiter machte. Es war eine ungemein anstrengende Zeit gewesen und war es immer noch, und ich fühlte mich zu erschöpft und zu entwurzelt, um auch noch Beziehungspflege zu betreiben.


An diesem Nachmittag war Ruhe. Die Söhne irgendwo draußen auf der Suche nach brauchbaren Mitspielern, ich saß an meinem Schreibtisch in meinem immer noch ungewohnt großen Zimmer in der immer noch ungewohnten Wohnung und schrieb etwas. Die Wohnung war so gar keine Liebe auf den ersten Blick gewesen wie die in der Lutterothstraße, ganz und gar nicht, aber die Zeit hatte gedrängt – und die paar anderen, die ich in Lüneburg bereits besichtigt hatte, waren noch schlimmer gewesen als diese. Die Fensterfront meines Zimmers lag Richtung Südwest, und an diesem Nachmittag schien die Sonne schräg hinein, vergoldete die Zimmerluft und verschenkte Wärme.


Ich war ganz eingesponnen in meine Gedanken und in das Aufschreiben, als ich auf einmal eine Präsenz in meinem Raum bemerkte. Ich schaute auf und sah Archie mitten im Zimmer stehen, auf dem Teppich vor meinem Sofa, knapp zwei Meter von meinem Schreibtisch entfernt. Archie Fire Lame Deer, Holy Man und Botschafter der Lakota Nation. Neun Jahre vorher war ich durch eine Art skurriler Reinkarnations-Schnitzeljagd samt der stärksten und energiegeladenste Vision meines Lebens - nebst einigen weiteren vergleichsweise kleinen Nicht-Zufällen – auf eines seiner Schwitzhüttencamps gelotst worden und ihm zum ersten Mal im „real life“ begegnet. Zwei weitere Camps in den nächsten beiden Jahren waren gefolgt, aber all das ist – mindestens – eine Geschichte für sich und soll hier gar nicht weiter ausgebreitet werden. Nur so viel: wir kannten uns, und er mich mit Sicherheit noch weit mehr als ich ihn. Aber es war fast sieben Jahre her seit dem letzten Camp, also der letzten realen Begegnung, und obwohl es mich überhaupt nicht wunderte, dass ein Lakota-“Medizinmann“ von seinem Kaliber sich mal eben astral projizieren kann, wohin er will, wunderte es mich doch sehr, dass er ausgerechnet mich auf diese Weise besuchte.


Und noch mehr wunderte mich, dass er eine Filterzigarette in der Hand hielt und mich telepathisch – ich hörte seine Stimme, obwohl er nicht sprach – wissen ließ, dass er mit mir eine rauchen wollte. Eine schnöde Zigarette, nicht die Heilige Pfeife… das war ganz Archies Humor. Ich hatte ihn nie Zigaretten rauchen sehen auf den Camps - er mich aber schon.


Nun war ich im Dilemma, denn eigentlich hatte ich ein paar Wochen zuvor mit dem Rauchen aufgehört. Nicht wirklich aus eigenem Wunsch und Willen, aber Marek hatte das Buch „Endlich Nichtraucher“ gelesen und am Telefon stundenlang darüber referiert, und wie gut ihm das Nichtrauchen täte. Und aus Bockigkeit hatte ich so etwas gedacht wie „dir zeig‘ ich‘s, ich wette, ich halte länger durch als du!“ und eben auch aufgehört. Und ich wollte doch gewinnen…! Doch dann meldete sich eine weit stärkere Stimme in mir und brüllte mich praktisch an: „Spinnst du?? ARCHIE besucht dich astral und will mit dir rauchen! Das ist eine so VERDAMMT GROSSE EHRE, scheiß auf die blöde Wette!“ Das nordete mich ein, ich zog meine Schreibtischschublade auf und holte meine Notfallzigarette heraus, die ich dort für alle Fälle gebunkert hatte. Diesen Fall jetzt hätte ich im Leben nicht vorausgesehen, und er war auch keinesfalls als Notfall einzustufen, eher im Gegenteil – aber es schien mir in dem Moment, als hätte ich sie unwissentlich genau für diesen Moment und für diesen Besuch dort hingelegt.


Und so rauchten der astral anwesende, aber durchaus konkret wirkende Archie Fire Lame Deer und ich gemeinsam und in einer zugleich leger-friedvollen, einträchtigen und quasi sakralen Atmosphäre schweigend unsere Zigaretten, er lächelte mir noch einmal zu – und löste sich samt Rauch in Luft auf.


Zwei Wochen später erhielt ich einen Anruf von einer meiner Camp-Freundinnen, dass Archie gestorben war. Drei Tage vor seinem Besuch bei mir, wie ich ausrechnete.


Einige weitere Wochen nach dem Besuch traf ich nachts – wenn meine Nachbarin Kira über Nacht fort war, durfte ich ihren Rechner nutzen und herumsurfen – im Astroforum auf zwei Postende, die auf Lakota miteinander kommunizierten. Ich verstand nicht viel, aber ein paar Worte schon, auf jeden Fall machte es mich neugierig, und ich textete sie an. Mit einem von ihnen ergab sich ein längerer Dialog – auf Deutsch, nicht auf Lakota -, in dem sich herausstellte, dass er Archie gut gekannt hatte. Er war nämlich eine ganze Weile in South Dakota und dort Archies persönlicher Fahrer gewesen.


Ich hielt noch den Mund, respektive die Tippfinger, bezüglich Archies astralem Besuch – weil Internet und vorsichtig und manches erzählt man besser, als es in den Orbit zu tippen -, aber er, Stefan, war eh gerade geschäftlich in Hamburg, musste ein paar Tage später zurück nach Köln und beschloss, in Lüneburg Zwischenstation zu machen, damit wir uns zum Kaffee treffen und persönlich austauschen könnten.


Von ihm erfuhr ich dann live unter vier Augen, dass Archie sehr wohl geraucht hatte – Marlboro Menthol -, aber nur, wenn niemand zugegen war. Außer dem Fahrer. Niemand sonst wusste davon, sagte Stefan. „Das kannst du echt als Ehre und großen Vertrauensbeweis ansehen!". Und ja, das tat ich auch, und ich habe ihn bis heute im Herzen behalten, den großen Archie Fire Lame Deer - und seinen ganz besonderen, ganz persönlichen, augenzwinkernden Abschied.





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