Nachtodbesuche 1, die Überfahrt

Nachtodbesuche

1. Die Überfahrt


Drei Tage nach dem Tod meiner Oma durfte ich sie besuchen. Im Schlaf. Sie war in S. gestorben, in dem Haus, das sie mit meinem Opa seit den Nachkriegsjahren bewohnt hatte. Meine Mutter und die Lebensgefährtin meines Onkels hatten sie in ihren letzten Jahren zuhause gepflegt, die kleine demente Greisin, der zwei Jahre vor ihrem Tod noch die nicht mehr genügend durchbluteten Beine amputiert worden waren. Ich hatte sie noch im Rollstuhl herumgefahren, in dem Teil des Ortes, in dem ihre Schwester und deren Mann gelebt hatten und nun deren Söhne wohnten. Ich hatte sie aus dem Bett gehoben – oh, wie leicht sie war! - und in den Rollstuhl gesetzt, und sie hatte dabei aufgejuchzt. Es hatte ihr Spaß gemacht.


In ihren letzten Jahren war sie wie ein Kind geworden, alle Mühsal von ihr abgefallen, und sie war ganz in Liebe und Dankbarkeit aufgegangen. Die war vorher zwar auch dagewesen, aber durch ihre rastlose Arbeitskraft eingehegt und überlagert. Meine Oma hatte nie stillgesessen, solange etwas zu tun war, und abends war sie in der Stube eingeschlafen, im Sessel, mit dem Kopf nach hinten auf die hohe Lehne gekippt und mit offenem Mund.


Meine Mutter hatte mich – ich wohnte schon in Hamburg - angerufen, um mir zu sagen, dass sie gestorben war. Ihre Leiche war noch drei Tage zuhause aufgebahrt, nach alter Sitte, bis der Bestatter sie abholte, und die Nachbarn waren gekommen, sich zu verabschieden.


In der dritten Nacht hatte ich einen sehr intensiven Traum: ich ging an Bord eines Schiffes, das Ähnlichkeit hatte mit den Fähren im Hamburger Hafen, die nach Finkenwerder und dann weiter nach Sülldorf fuhren. Aber dann doch nicht, denn es waren zwei Schiffsoffiziere in Uniform an Bord, die mich gravitätisch begrüßten und mich zum Zimmer geleiteten, in dem meine Oma auf mich wartete.


Sie saß aufrecht in einem großen Bett und strahlte mich an, voller Freude, mich zu sehen, und sie war zugleich, wie ich sie kannte, und doch viel jünger, kindlich fast. Es ging eine strahlende Lebendigkeit von ihr aus, alle Mühsal des Alters war völlig abgefallen. Das Bemerkenswerteste war aber ihre Bettwäsche: die Kissen in ihrem Rücken und die Bettdecke schienen ganz aus Licht zu bestehen, strahlendem weißem Licht. Der ganze Raum war erfüllt davon, meine Oma saß mittendrin und war jung, heil und glücklich, und ich spürte eine immense Leichtigkeit mich durchdringen, Leichtigkeit und Freude. Der Boden unter meinen Füßen schaukelte im Takt der Wellen, und sein sanftes Heben und Senken war wie der Schlag eines Herzens.


Das dauerte eine Ewigkeit und einen Moment zugleich, und dann kam einer der Schiffsoffiziere und mahnte mich, dass ich umsteigen und zurückfahren müsste, weil sie gleich die Grenze überqueren würden. Er geleitete mich hinaus, ging mit mir auf die Reling und wies nach vorn, in die Richtung, in die wir fuhren.


Dort lag etwas, das eine Insel war oder eine Landzunge, mit einem kleinen Pier, von dem gerade das Schiff abgelegt hatte, das mich zurückbringen sollte. Es sah genauso aus wie das, auf dem ich war, wie ein Zwillingsgeschwister, und an der Bugwelle sah man, dass es Fahrt aufnahm. Ich schaute aber nur kurz darauf, denn das Stück sichtbares Land, von dem es kam, war von solcher Schönheit und strahlte so viel Frieden und, ja, Heilung aus, dass ich seine Regenerationskraft schon aus der Ferne in allen Fasern meines Seins spürte. Es war eine Art Park, mit leicht abschüssiger Rasenfläche im Vordergrund, zum Pier hin, die grüner war als jedes Gras, das ich je in der Realität gesehen hatte. Es leuchtete. Dahinter, umgeben von wunderschönen hohen Bäumen, stand ein großes strahlendweißes, wie aus Licht gebautes Haus, schlossartig, mit zwei Flügeln, einem geschwungenen hohen Giebel in der Mitte, hohen Fenstern an den Seiten und einem Portal mittig unter dem Giebel. Ein Sanatorium im wahrsten aller Sinne. Oh, wie das meiner Oma gefallen würde!


Es war nur ein kurzer Blick, aber über alle Maßen eindringlich. Ich kann das Sanatorium heute noch – nach fast dreißig Jahren – in meinem Geist aufrufen und immer noch etwas von seiner überirdischen Heilkraft fühlen. (Und ich habe es auch noch einmal wiedersehen und vor allem wieder fühlen dürfen, aber das ist eine andere Geschichte… von einem anderen Tod.)


Und dann hatte uns das Schiff von der anderen Seite erreicht und hielt seitwärts an unserem, ein Steg wurde ausgelegt, ich ging hinüber und spürte noch, wie das Wasser unter mir die beiden Schiffe schaukelte…

und dann wachte ich auf. In meinem Bett. In meinem Alltag. Erholt wie nach einem langen intensiven Urlaub, erfrischt in jeder Zelle.


Und ich wusste, dass meine Oma gut angekommen war.




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