Drei Tage mit David

Nachtodbesuche, Teil 3: Drei Tage mit David


Fast drei Jahre hat das zweite Zimmer meiner Wohnung leergestanden, nachdem mein Sohn Daniel – den jetzt alle „Barry“ nennen – aus- und in eine kleine WG in der Innenstadt gezogen war. Fast drei Jahre habe ich es so gelassen, wie es gewesen war, und nur zum Entmutterungsweinen betreten, das zum Glück immer seltener wurde.


Jetzt, fast drei Jahre später, habe ich mich ausgeweint und versuche, eine Art Arbeitszimmer daraus zu machen. Habe eine zwei Meter lange solide Holzplatte aus dem Keller auf zwei Böcken hinein- und meinen Rechner daraufgestellt; das ist schon mal ein Versuch, das Zimmer selbst zu bewohnen, dessen Leere mit etwas Sinnvollem zu füllen...und ich hoffe, dass mir alles Weitere dann auch einfallen wird. Noch ist es ungemütlich karg, ein bisschen wie eine übergroße Mönchszelle. Keine Gardinen, keine Rollos am Fenster, von mir selbst ziemlich schlampig überstrichene weiße Wände. Ein Raum wie ein unbeschriebenes Blatt und der krasseste denkbare Gegensatz zu meiner gemütlichen, hippieesken, mit Sofa, vollen Bücherregalen und großen Grünpflanzen bestückten Hippiebude nebenan - voll Zen also. Ich habe gehofft, dass mich gerade diese Leere inspirieren würde - oder zumindest nicht ablenken -, aber vorerst ängstigt sie mich eher, und ich flüchte dahin, wo immer etwas los ist: ins Internet. Mein Monitor steht nun vor einer ziemlich weißen Wand, war nicht anders zu machen, und ich hatte gehofft, dass der mangelnde Ausblick mich auch am Ablenken hindern würde. Nun sitze ich also davor und stelle fest, dass vor einer weißen Wand zu hocken doch keine so gute Idee war. Auf die zu gucken statt wie im anderen Zimmer durch die Balkontür auf den Balkon fühlt sich an wie...Knast. Mauer vorm Kopf gibt irgendwie so ein ähnliches Gefühl wie Mauer im Kopf, stelle ich fest. Aber wo ich das alles schon mal umgebaut und Rechner und Monitor hier hereingeschleppt habe, lasse ich es erstmal dabei, hoffe, dass sich das Gefühl durch Gewohnheit ändert, und nutze zur Gewöhnung den Fluchtweg Internet.


An diesem Abend, dem dritten oder vierten der Gewöhnungsaktion, surfe ich wieder etwas planlos herum, als ich auf einmal eine fremde Präsenz wahrnehme. Nichts Unangenehmes, nichts Bedrohliches, nur ein unbekannter Besucher. Der zwar nicht im üblichen Sinn sichtbar ist, aber deutlich spürbar, so wie wir ja auch zumeist merken, wenn jemand dicht hinter uns steht – und, wenn uns der, die oder das Jemand vertraut ist, sogar wer.

Mein unsichtbarer Besucher jedenfalls ist ein Er, und zwar ein lieber, freundlicher. Dem Epizentrum seiner sanften Strahlung nach lehnt er lässig am Türrahmen und wartet, dass ich auf ihn aufmerksam werde. Was er ja jetzt geschafft hat. „Oh, wer bist du denn?“ frage ich laut. Er sendet mir voll Freude, dass ich ihn wahrnehme, eine freudige Energiewelle und gleich darauf eine Welle dichtgepackter Information. Googlen soll ich ihn, verstehe ich darin, und wen ich googlen soll, verrät mir die Welle auch. Ich weiß es, ohne dass er seinen Namen nennen muss. Echt praktisch, wenn der Geist, der eine aufsucht, seinen eigenen Wikipedia-Eintrag hat.


Schriftsteller war er also gewesen, US-amerikanischer. Und ich hatte sogar von ihm gehört. Vor allem, weil es durch alle Nachrichten gegangen war, dass er sich - nach seinem größten und erfolgreichsten Buch, das es in die TIME- Magazin-Liste der besten englischsprachigen Bücher zwischen 1923 und 2005 geschafft hatte, und langer Leidenszeit mit immer stärkeren und letztlich nicht mehr behandelbaren Depressionen - das Leben genommen hatte. Sechsundvierzig war er geworden, sein Tod ist sieben Jahre her, als er nun bei mir auftaucht. Aber das registriere ich in dem Moment gar nicht, sondern sende ihm spontan die volle Welle meines herzlichen, schmerzlichen Mitgefühls. „Oh Gott – das tut mir so leid!“

Er winkt ab und sendet mir eine tröstende Welle zurück. Ich sehe sein Abwinken, obwohl ich ihn nicht sehe, jedenfalls nicht mit den Augen. „Nein, bitte, alles okay, es geht mir GUT!“ schwingt die Welle, und ich fühle in Solarplexus und Herz zugleich, dass es so ist, zusammen mit der Freude, die er ausstrahlt, weil ich ihn wahrnehmen und er mit mir kommunizieren kann. Direktimpulskommunikation, so habe ich das immer genannt, diese komplexen Cluster aus ganzheitlicher, nichtlinearer Mit-Teilung, die wie Feuerwerksraketen im Raum und im Gegenüber explodieren... und gegen die unser gewöhnlicher zwischenmenschlicher Schallwellen-Austausch, Mund zu Ohr quasi und konsequent Wort-für-Wort-linear, sich anfühlt wie sich mühselig an Behelfskrücken einen Weg entlangzuschleppen, Schrittchen für Schrittchen.


Ich frage mich, warum er ausgerechnet bei mir auftaucht – aber bevor mir bewusst wird, dass ich es tue, hat er schon den Ball gefangen und „streamt“ mir einen weiteren Schwall komplexer Information. Erstaunt erfahre ich, dass er in seinem Jetztleben - völlig befreit von physischem Körper und irdischer Physik, der Glückliche – frei und glücklich durch die Räume schweift, von denen wir Körperbehafteten keine Ahnung haben. Und dass er von den Gedankenformen von Schreibenden und ihren werdenden Werken angezogen wird. Wundert mich jetzt nicht wirklich, in seinem Wikipediaeintrag stand ja auch, dass er kreatives Schreiben gelehrt hat.

Und ja, ich schreibe. Und zu dieser Zeit arbeite ich an einer Art Collage aus vielen einzelnen autobiografischen Erzählungen mit dem Arbeitstitel „Die Fette und der Tod“. Eher für mich selbst als mit weitergehenden Ambitionen tue ich das, und nur ein paar meiner besten Freundinnen wissen überhaupt davon. Mein unsichtbarer Gast aber kennt alles davon, auch das Noch-nicht-Geschriebene; für ihn in seiner jetzigen ätherischen Heimatdimension ist es ein fertiges Werk, er kann so viel mehr davon lesen als in Buchstaben steht...und er findet es großartig und macht mir Mut. „Du kannst etwas, das ich nie wirklich konnte – du kannst kürzen!“ streamt er mir als komprimierten, mit Begeisterung geladenen Informationsball, der in meinem Inneren aufplatzt und sich überall verteilt.

Erst viel später werde ich bewusst verstehen, was er damit meint. In diesem Moment bin ich so baff, dass ich den Ball einfach so annehme und in den Tiefen meines kleinen Seins abspeichere.


Für diesen Abend und diesen Besuch gebe ich aber lieber das Schreibenwollen und das Internetsurfen auf, schalte den Rechner aus, verlasse das kahle ungemütliche Ex-Sohneszimmer und wandere zurück in meine Hippiebude neben an. Dort steht mein gemütliches Sofa, das einem solchen Besuch viel angemessener scheint, und auf das ich mich fallen lassen kann.

Das unsichtbare Feld meines astralen Gastes hat den Dimensions-Shortcut genommen und streckt sich oben auf der Sofa-Rückenlehne hinter meinem Kopf aus wie eine große unsichtbare Katze. Von dort aus flutet er, sobald ich sitze, mein Bewusstsein mit einer Art Hyperraum-5D- Visualisierung lebendiger Geometrie, inklusive komprimierter mathematischer Formeln, die sich selbst schreiben und wieder auflösen. Das ist eindeutig seine Welt, er hat Mathematik und besonders Geometrie immer geliebt (stand in Wikipedia). Für mich ist es eine unglaublich faszinierende, unglaublich unendliche und mir absolut fremde Sphäre, die jedes Gefühl von begrenztem Raum, wie ich es kenne, völlig verschwinden lässt. Ja, ich weiß, mein Körper sitzt noch auf dem vertrauten Sofa, aber mein Bewusstsein fliegt durch grenzenlose Weiten, in denen vielfarbige multidimensionale Formen und Formeln wie lebendige Wesen auftauchen, sich verwandeln und miteinander zu spielen scheinen. Absolut faszinierend – und mir absolut fremd.

I don‘t speak Math!“ sende ich ihm, und wenn man es hören könnte, wäre wohl ein etwas hilfloses Quietschen darin. Was in diesem Hyperraum abläuft, in dem die Trennung von Innen und Außen, oben und unten und auch sonst alle mir bekannten Parameter völlig aufgehoben sind, ist unfassbar weit jenseits aller meiner möglichen Wahrnehmung, dass mir jede Orientierung unmöglich ist.

Mein Gast lacht ein kleines astrales Lachen und sendet mir ein „Macht nichts, genieß‘ die Tour einfach“. Und das versuche ich dann auch und halte mich beim Flug durch unbekannte Alls (All-e? All-en?) an seiner freundlichen, verspielten Präsenz auf meiner Sofa-Rückenlehne irgendwo da unten fest.


Und dann irgendwann ist er einfach weg, nicht mehr da, ich bin wieder in meinem altbekannten und definitiv flugunfähigen Körper, der etwas desorientiert auf dem altbekannten Sofa sitzt. In den ersten Momenten fühlt sich mein vertrautes Zimmer ohne ihn viel leerer und schrecklich viel normaler, ja fast langweilig an. Und wenn ich nicht so müde wäre, würde ich ihn vermissen, aber so ziehe ich mich aus, falle ins Bett und schlafe mit den letzten Hyperraum-Eindrücken, die ich noch erinnern kann, im Kopf ein.


Der nächste Tag ist erst einmal wieder normal, so wie ich ihn kenne… bis auf die klare Erinnerung an den überraschenden und so angenehmen Besuch und das schöne Gefühl seiner Anwesenheit, und deswegen blöder normal als ich meine normalen Tage kenne. Ich komme mir sogar etwas alleingelassen vor, und das passiert mir verdammt selten. Um dem Blues zu entkommen, wandere ich zu meinem Garten in der Kleingartenkolonie, meinem zweiten Zuhause.


Als ich dort gerade den Wegrand-Wildwuchs außen am Weg unter meiner Gartenhecke bearbeite und den Besuch vom Vorabend vor lauter Gierschroden schon fast vergessen habe, spüre ich auf von jetzt auf gleich seine entspannte, freundliche Präsenz wieder. Diesmal hat er es sich oben auf der Hecke bequem gemacht, sein unsichtbares, aber warm strahlendes Feld ausgestreckt wie am Vorabend auf der Sofalehne. Es fühlt sich an, als könnte man es mit einem Wärmedetektor sichtbar machen, ich weiß genau, wo auf der Hecke es anfängt und wo es endet, und ich fühle mich wie mit einem etwas spleenigen, aber unglaublich lieben Kumpel zu Besuch, der ohne große Ansprüche einfach an meinem Alltag teilhaben will. Wir können telepathisch kommunizieren, das läuft einfach so nebenbei und völlig wortlos, aber es ist auch gar nicht wichtig.

Als eine alte Dame ganz in Rosa mit Rollator des Weges kommt und ich mich mit ihr eine Weile unterhalte – sie hatte lange Jahre ihren eigenen Kleingarten in unserer Kolonie und die schönsten Rosen von allen -, spüre ich Wellen von Freude, die von meinem unsichtbaren Besuch auf der Hecke ausstrahlen. Ich mag die alte Dame, sie ist glücklich, sich mit mir zu unterhalten, und mein unsichtbarer Gast auf der Hecke genießt unsere friedliche, freundliche gemeinsame Vibration. Wie ich seine Präsenz, die irgendwie alles etwas schöner und weicher sein lässt.


Und dann irgendwann ist er wieder weg und mit ihm seine liebevolle, sanft neugierige Schwingung. Ich fühle mich etwas alleingelassen und ins Normaldasein zurückgeschubst, eine Ebene tiefer sozusagen. Hoffe, dass er noch einmal bei mir zuhause auftauchen wird und überlege, ob es hilft, wenn ich mich wieder an den Rechner im anderen Zimmer setze und zumindest so tue, als würde ich schreiben – aber nein, blöde Idee. Jemand, der auch das noch Ungeschriebene an meinem Buch kennt und Gedanken lesen kann, lässt sich von so etwas mit Sicherheit nicht bescheißen. Und wenn ich mich in Universen tummeln und noch ungeschriebene Bücher und sonstige Gedanken lesen könnte, würde ich wahrscheinlich auch zwar gern die eine oder andere Botschaft loswerden und liebevolle Stimmung verbreiten, aber dann auch schnell wieder aus der Enge der Materie in die Weiten der unendlichen Energien und Informationen entschwinden.

Am nächsten Tag spüre ich ihn noch einmal, als ich gerade vom Einkaufen komme und den Feldweg zur Allee hinunter gehe. Sein warmes liebevolles Feld begleitet mich ein Stück, dann ist er wieder weg. Es dauert ein paar Tage, bis ich ihn nicht mehr vermisse...aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass er wahrscheinlich wieder im unendlichen Raum der noch ungeschriebenen Manuskripte unterwegs ist und vielleicht dem nächsten schriftstellernden Menschenkind einen mutmachenden Besuch abstattet. Schließlich ist das jetzt sein Job.


Aber weil es mich doch nicht ganz loslässt, hole ich mir ein paar Wochen sein größtes Buch – das aus der Time-Liste – aus der Bücherei. Es ist die preisgekrönte deutsche Übersetzung, nicht das Original, aber hey, preisgekrönt ist ja schon mal vertrauenswürdig. Nach den ersten zweihundert Seiten ist mir klar, warum er ausgerechnet meine Fähigkeit zum Kürzen so faszinierend fand, und das funke ich ihm mit einem inneren Lächeln und Augenzwinkern zu. Das Buch ist eine Welt für sich, mit unendlichem Erfindungsreichtum und Verfremdungsgeist, „alles ist drin“, fiktionalisiert und immer wieder doch erkennbar, mal ganz nah, mal ganz weit weg, mal völlig schräg, dann wieder total klar. Ich wäre völlig aufgeschmissen beim Lesen, wenn ich ihn nicht – und genau auf diese Weise – kennengelernt hätte. Und so unterhalte ich mich mit ihm, während ich es lese, so als würde er immer noch ausgestreckt wie eine Katze auf meiner Sofalehne schweben.

Zweihundert Seiten vor dem Ende des Buchs muss ich laut lachen. Da trifft nämlich ein Protagonist aus einem der gigantischen Handlungsstränge in einem Krankenhaus auf den Protagonisten eines ganz anderen Strangs. Und der letztere ist nun ein Geist, weil bereits dahingeschieden. Und die beiden tauschen sich ebenso telepathisch aus wie mein Gast und ich! „Hast du damals beim Schreiben schon gewusst, dass das geht?“ funke ich ihm liebevoll in seine andere Welt. Danke ihm für seinen Besuch und wünsche ihm von ganzem Herzen alles Gute dort draußen.













































DFW ist nämlich tot. Er ist Schriftsteller, und er ist tot, ein toter Schriftsteller also, und das scheint weder ihm noch mir etwas auszumachen. Mir nicht, weil meine besten Freunde tot sind (und viele von ihnen sind Schriftsteller), und ihm nicht, weil er mich sonst ja wohl gar nicht erst aufsuchen würde, oder? Das macht er nicht, wie man es sich vielleicht vorstellt, so als wallendes Gespenst oder durchsichtige Gestalt, falls das jemand denken sollte. Nein, er ist unsichtbar und formlos, und wer er ist, weiß ich auch nur, weil er mich ihn googlen lässt, statt sich förmlich vorzustellen. Dichter und Tote haben mindestens eine Gemeinsamkeit: sie lieben es, Information zu komprimieren. DF nimmt also den Shortcut und gibt mir das unmittelbare Verlangen ein, möglichst schnell möglichst viel über ihn zu erfahren. Und dann weiß ich, wer er ist oder war, wie er ausgesehen hat und wie er gestorben ist. Und was er geschrieben hat, und ich nicht gelesen.


DFW hängt als Feld im Raum, in einer Art Raum, die kein Innen und kein Außen hat, sondern so etwas wie eine Mischung aus beiden mit einer Dimension mehr. Metaebene. Und wir sprechen nicht, sondern werfen uns Gedankenbündel zu, die gar nicht in Sprache übersetzt werden müssen, damit wir einander verstehen. Es fühlt sich an, als würden schillernde Blasen im Inneren aufplatzen und die Botschaft freisetzen, keine lange, lineare, sondern so etwas wie nach allen Seiten auseinanderspritzende Sinntropfen. Eine Art von Kommunikation, die einem erst richtig klar macht, wie langwierig, ungeschickt und unzulänglich an Sprache herumgebastelt werden muss, damit sie sich wieder zu Bildern entfalten und Vorstellungen und Empfindungen auslösen kann. Verketten von Buchstaben zu Wörtern, die zu Sätzen, ein Buchstabe nach dem anderen, Zeichen dazwischen wie Verkehrsschilder an Straßen, und immer geht es rein technisch nur geradeaus, egal wohin der Textgeist fliegt. Wie viel Schwund produziert wird, während man sich vorantastet, vom Vorgestellten und Gefühltem zum Gesagtwerdensollenden, das deshalb irgendwie nie so herauskommt, wie es sich vorher anfühlte, und dessen man sich deshalb auch so selten sicher sein kann. Es endet immer im Versuch, verstanden zu werden, nicht im Verstehen. Und leider denken die am wenigsten darüber nach, die das am meisten nötig hätten.


DF hat darüber nachgedacht, immer wieder. Im Ernst, ich weiß gerade nicht, ob ich die Gedanken, die ich hier wiederzugeben versuche, von ihm oder von mir sind, aber ich weiß, dass er unendlich viel darüber nachgedacht hat. Und trotzdem geschrieben, was ich zutiefst bewundere, obwohl ich seine Bücher immer noch nicht lesen werde. Too long, won´t read, you know? Nicht mein Thema, zu wenig Zeit, weiß gar nicht, wie ich das noch unterbringen soll, vielleicht was Kürzeres als sein bekanntestes, Meisterwerk, heißt es, über tausend Seiten, oh mein Gott, wann soll ich das denn...?


Das Feld, diese unsichtbare Wolke, die DFW jetzt ist, drückt eine wegwerfende Handbewegung aus. Ohne Hand, ohne Bewegung, ich fühle sie trotzdem. Nicht wichtig, heißt das. Gar nicht wichtig. So was von überhaupt nicht wichtig.


Aber dein Buch ist gut.“ Würde der Satz lauten, dessen Informationsessenz gerade rundherum aus einer virtuellen Blase platzt, die DFW gedacht hat. Eigentlich enthält er viel mehr, als diese Worte transportieren können, eine vielfarbige Wahrhaftigkeit zum Beispiel, regenbogenbunt, so dass ich nicht im Mindesten auf die Idee kommen kann, er könnte es weniger umfassend meinen als er das tut. Ich komme noch nicht einmal auf die Idee, ihn zu fragen, wann und wo er es denn gelesen haben will, schließlich arbeite ich noch dran. Es ist noch nicht mal ein Buch, nur ein Manuskript, und ob es jemals etwas anderes wird, steht so was von in den Sternen. Aber in dieser Informationseinheit, - dass DFW es gut findet, Wahnsinn!! - ist alles verbunden, also wie er herangekommen ist – ganz leicht in seinem Zustand – und dass er überhaupt nicht mehr lesen muss, sondern einfach alles einsaugen kann, was drin ist, sein könnte, die holografische Variante von Manuskript aufnehmen, was praktisch so funktioniert, wie wir miteinander Denkblasen austauschen, nur eben mit verhältnismäßig viel geräumigeren Blasen. Und es ist ganz gleich, in welcher Form das Buch vorliegt oder ob es überhaupt schon materiell geboren ist, das macht da, wo DF sich jetzt herumtreibt, sowieso nicht den mindesten Unterschied. Ich muss nicht fragen, wie es dort ist (oder ob es überhaupt als „dort“ bezeichnet werden kann von hier aus), es sprudelt von allein.


Das ist unglaublich cool!“ würde seine schillernde Blase wohl hier übersetzt lauten,“du kommst an alles, alles Wissen, alle Gedanken, alle Geschichten, es ist alles da, du bewegst dich darin wie...“


Ein Fisch im Wasser!“ lache ich. Wenigstens das kenne ich, den Anfang seiner berühmten Rede, habe ich natürlich auch weder ganz gehört noch ganz gelesen, hatte ich immer noch mal vor, aber die Zeit, die Zeit... Und weil ich das tatsächlich laut ausgerufen habe, statt es einfach nicht mal denken zu müssen, lache ich noch einmal, muss irgendwohin mit all der Freude, der Begeisterung, mit der seine Blase geladen ist, die ich jetzt auch in mir spüre, wo sie aufplatzt. Ich erfahre, wie das ist, und es ist viel mehr, viel Meer, als mein kleiner blödsinniger Imnachhinein-Übersetzungsversuch überhaupt ahnen lassen kann. Aber mehr geht hier nicht. Hier nicht, in diesen blöden drei Dimensionen.


Und DF weiß das, und es schert ihn nicht mehr, nicht ein bisschen.


Ich will wissen, ob das alle Schriftsteller können, da wo er jetzt ist, ob er welche trifft oder jeder für sich unterwegs ist, und ich sende das ganze Gedankenpaket auf einmal, es ist das erste Mal, dass ich so etwas wie eine gelungene Blase hinkriege, nur farbig kann ich noch nicht. DF macht das gar nichts, er freut sich drüber und bläst seinen großen schillernden Strom mitten hinein wie ein fröhlicher Wal. Wie soll ich das übersetzen? Dass „für sich“ nicht der passende Ausdruck wäre, und wo wir gerade dabei sind, „jeder“ auch nicht. So ungefähr, und doch längst nicht, was gemeint ist.


Wie beschreibt man Grenzen-los in einer Welt, die sich ständig über Grenzen definiert? Keine Chance. Ich starre auf die kleinen Buchstaben, die ich mit meinen Händen auf der Tastatur auf den Bildschirm projiziere. Tipptipptipp. Schwarz auf weiß. DF ist drüber hinaus, ganz weit hinaus, und in der Welt, in der er jetzt schwimmt, gibt es keine Grenzen, nicht zwischen Buchstaben und dem Bild, das sich im Kopf daraus zusammensetzt, eigentlich schon ein Wunder, dass das funktioniert hier, nicht zwischen den Schriftstellern und ihren Werken, oder überhaupt Werken, und nicht mal zwischen den Schriftstellern selbst. Die dort Felder sind wie DF jetzt eins ist, und die zwar noch ihre Signaturen haben, aber ineinanderfließen, wie verschiedene Tinten ineinanderfließen. Und die all das, was sie an Texten einsaugen, miteinander teilen, unbeschränkter Zugang, absolute Großzügigkeit. Schriftstellerhimmel. Sage ich. DF hat keine Bezeichnung dafür, die braucht er nicht, braucht niemand dort, wo er jetzt ist. Aber ich hier muss ja irgendwie eine erfinden, unter der ich das verbuchen kann, was DF mir antwortet. Wonach ich mehr und mehr Sehnsucht habe, aber mir noch nicht vorstellen kann, ich, in meinem Körper, über den ich schreibe, mit meinen Ängsten und Schmerzen und Peinlichkeiten, ohne die ich mich mir nicht vorstellen kann.


DF lässt mich wissen, dass ich weiterschreiben soll, also nicht nur hieran, sondern generell. Und um mich nicht mehr zu verwirren, hört er auf, mir Blasen zu schicken, sondern weitet sein Feld aus, bis es sich anfühlt wie etwas Unbestimmtes, aber Warmes, das im Raum schwebt, also, in meinem Arbeitszimmer, diesem Raum, und doch nicht in diesem, es fühlt sich nur so an, so wie der Geruch eines Besuchers noch in der Luft liegt, wenn der schon gegangen ist, sich nur allmählich verflüchtigt.


DF ist ein Geruch, der bleibt. Auch wenn ich weiß, dass er nicht nur hier, sondern überall ist, überall, wo jemand schreibt, und überall sonst. Es geht ihm unendlich gut, soll ich schreiben. Und dass er jetzt erst weiß, was infinite jest eigentlich bedeutet, haha, und das ist der größte Witz von allen.



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